Beiträge aus der "Stadt Gottes"


Sprung ins Dasein

 

Das Pilgern ist vermutlich die Reiseerfahrung, die am meisten herausfordert. Die rhythmische Langsamkeit des Gehens, das sprachlose Hören auf die Leere um einen herum – das Leben wird dadurch ruhiger, aber auch intensiver und geschmackvoller

 

Erschienen in: Michaelskalender 2012

 

So ruhig ist es selten in der Stiftskirche von Heiligenkreuz, jenem Zisterzienserstift, das durch seine „singenden Mönche“ und ihre gregorianische CD „Chant“ Weltruhm erlangt hat. Es ist neun Uhr morgens an einem warmen Julitag, die Sonne vertreibt gerade die letzten Schatten aus dem idyllischen Klosterhof mitten in den sanften Hügeln des Wienerwaldes.

 

Wie zwei Schulbuben stehen mein Freund Dominik und ich allein in der eindrucksvollen Stiftskirche, vor uns P. Karl Wallner, Buchautor und Professor an der Hochschule Heiligenkreuz: „Möge der Geist Gottes euch auf dem kommenden Weg begleiten und eure Freundschaft stärken.“ Er legt uns die Hände auf, bittet für uns den Segen herab. Ein rasches „Amen“, und noch bevor die ersten Besucher den Klostergasthof bevölkern, marschieren wir los. Vier Tagesetappen liegen vor uns bis nach Mariazell, einem der wichtigsten Wallfahrtsorte Mitteleuropas.

 

Alle paar Jahre packt es mich. Raus aus dem streng rhythmisierten Alltag und seinen Gewohnheiten und hinein in die Wanderschuhe, genauer: in die Pilgerschuhe. Seit ich als Jugendlicher zunächst aus sportlichem Ehrgeiz, später aufgrund der tiefen Gemeinschafts- und wohl auch Glaubenserfahrung jährlich mit einer Gruppe aus meinem Heimatort am Niederrhein ins 250 Kilometer entfernte Trier zum Grab des Apostels Matthias gepilgert bin, lässt mich das Pilgern nicht mehr los. Ausbrechen aus dem vermeintlich Normalen, nicht, um abzubrechen, wegzulaufen, nein, um gestärkt zurückzukehren, um den süßen Nektar puren Daseins zu kosten, aber auch den Schmerz an den Füßen und die Freiheit im Kopf.

 

Auskehr des Alltäglichen

 

So auch in diesem Juli. Bereits kurz nach unserem Ausgangsort Heiligenkreuz führt der Weg, vorbei am geschichtsträchtigen Mayerling, nur mehr durch satte Wiesen, kleine verschlafene Ortschaften und weite Täler. Vergessen die Nähe zur Großstadt Wien, vergessen nach wenigen Schritten auch Büro, Sitzungen, Stress. Noch ist es allerdings zu früh für Spiritualität oder gar Gebet. Zunächst tauschen wir uns aus, erzählen von unseren Familien, vom Beruf, plaudern so intensiv, wie es enge Freunde tun, die sich nur noch selten sehen.

 

Ein erster Anstieg nach Hafnerberg, eine erste wohltuende Pause. Die schweren Rucksäcke lasten noch ungewohnt auf unseren Schultern. Nach 25 Kilometern erreichen wir unser erstes Etappenziel: Kaumberg. Keine übertriebenen Etappen gleich zu Beginn, lautet das Motto. Pilgern – nach dem ersten Tag noch ein wenig das Gefühl von Ferien und Freizeit, keine Einkehr, eher Auskehr des Alltäglichen.


Zeit zum Reden, Zeit zum Schweigen

 

Der nächste Tag wartet nicht nur mit strahlendem Wetter, sondern auch gleich mit dem alpinistischen Höhepunkt auf: dem Kieneck. Auf über 1.100 Meter schraubt sich der Weg hinauf durch dichte Wälder und entlang eines schmalen Kamms, der immer wieder atemberaubende Blicke in die Weite zulässt. Nach einer Stärkung auf der Enzianhütte bietet sich uns ein grandioses Drohszenario: Eine mächtige Wolkenfront mit fernem Gewittergrollen rückt näher – Zeit, um auch einmal die spirituelle Dimension unseres Weges aufzugreifen: Wir lesen gemeinsam aus dem Buch Hiob – immer wieder hat uns die Figur Hiobs, sein stilles, von Demut bestimmtes Aufbegehren gegen Gott während unseres gemeinsamen Studiums begleitet, herausgefordert. Weiter führt der Weg über das nicht minder alpine Unterbergschutzhaus bis zum Etappenziel Rohr im Gebirge.


Die dritte Etappe bis St. Aegyd wartet mit Regen und Kälte auf. Je näher wir Mariazell kommen, desto mehr wird der Ort seinem Ruf als Wetterloch gerecht. Mariazell: dass der Ort das eigentliche Ziel ist, können wir nicht behaupten, unser Herz hängt am Weg, an jedem Schritt. Während der Regen die Kleidung durchnässt, die Schritte langsamer und uns stiller werden lässt, wird der Kopf frei. Stille – auch das gehört zu den wichtigen, intensiven Pilgererfahrungen. Wir nutzen die kostbare Zeit, die wir so selten miteinander teilen, für Gespräche – nun aber auch für gemeinsames Schweigen.

 

Das Leben wird langsamer

 

Je näher wir Mariazell kommen, desto dichter wird auch die Beschilderung des Wegenetzes. Österreich müsste vollgepflastert sein mit Wegschildern, wollte man jeden Wallfahrtsweg auszeichnen. Regionale Wege überziehen das Land ebenso wie die großen Jakobswege. Rund 80.000 Pilger machen sich jährlich in Österreich auf den Weg. Zwei davon nähern sich am mittlerweile vierten Tag auf dem „Wiener Wallfahrerweg“ ihrem Ziel. Die Pilgerdichte wird höher, der Rucksack schwerer, die Füße müder.

 

Die letzten Kilometer. Von Ferne ist bereits die mächtige Basilika inmitten des weiten grünen Tales zu sehen. Mit jedem Schritt Richtung Ziel rücken sie langsam wieder näher, die Gedanken an den Job, den Terminkalender, den strengen Wochenrhythmus. Muss das alles so sein? Ließ sich nicht so manch angeblicher Zwang einfach über Bord werfen? Der pilgernde Sprung ins bloße, nackte Dasein – er stärkt nicht nur für die Rückkehr in den Alltag, er schafft auch wohltuende, reinigende Distanz zu vermeintlich Unvermeindlichem.

 

Fast ein wenig enttäuscht über unsere fehlende Euphorie über das Erreichen unseres Ziels betreten wir die Basilika. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, vor der Gnadenstatue wird ein Gottesdienst mit anderen Neuankömmlingen gefeiert. Nach einem kurzen Rundgang und einem stillen Gebet entschließen wir uns, unsere Ankunft in einem der nahen Gasthäuser zu feiern. Wir lassen die Tage noch einmal Revue passieren, Müdigkeit stellt sich ein, die Vorfreude auf die Familien und auf das „normale Leben“, auf die Pilgerfahrt im Alltäglichen wächst.

 

„Ich ließ meine Seele ruhig werden und still, wie ein kleines Kind“ heißt es in einem Wallfahrtslied Davids in den Psalmen. Ebenso ruhig und still kehren wir nach Wien zurück. Gehen, Wandern, gemeinsam unterwegs sein: Das Leben wird langsamer in dieser urbiblischen Erfahrung des Pilgerns. Aber es wird auch intensiver, dichter – manchmal schmerz-, aber immer geschmackvoller. Und am Ende dürstet man nach mehr von diesem Leben.

 

 

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Sprung ins Dasein - Michaelskalender 2012
Reportage einer Pilgerfahrt von Wien nach Mariazell für den "Michaelskalender 2012"
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Foto: Henning Klingen
Foto: Henning Klingen

Familie leben: „Nie so kalt, dass ma friern“

 

Wer das Staunen vor den Selbstverständlichkeiten des Lebens verlernt hat, dem sei eine eineinhalbjährige Tochter empfohlen. Vor einem Jahr berichtete Henning Klingen in der STADT GOTTES über seine Rolle als Jungvater. Was seither geschah...

 

Erschienen in: Stadt Gottes, Juni 2011

 

Pa-tsche-len.“ – „Papigi!“ – „Nein, Luisa: Pa-tsche-len!“ – „Papigi!“, tönt es erneut freudestrahlend aus dem Mund meiner Tochter. Sie liebt sie heiß und innig, ihre kleinen, mit Dinosaurierköpfen dekorierten roten Hausschühchen, die „Pa-tsche-len“. Aber es hilft nichts. Es sind und bleiben in ihrer Sprache „Papigi“. Es heißt, Welterschließung geschieht durch Sprache. Wenn es danach ginge, wäre die Welt unserer Tochter nach eineinhalb Jahren noch recht klein und beschränkte sich auf „Papigi“, auf „Minou“ – unsere Katze und Luisas beste Freundin –, auf „Omama“ und „Opapa“, natürlich auf „Mama“ und „Papa“ – und auf „Auto“ und „Baum“.

 

Tatsächlich aber ist Luisas kleine Welt riesengroß. Jeder Tag ist eine Expedition. Auch wenn immer wieder dieselben Bücher angesehen werden, es werden doch täglich andere Details entdeckt. Welt will begriffen werden – im wahrsten Sinne des Wortes. Prompt hat sie einen großen feuchten Klumpen Erde aus dem Garten in der Hand und strahlt über beide Ohren. Plötzlich erspäht sie im Gebüsch einige Kohlmeisen, die um einen Meisenknödel flattern. „Daaaa! Meime!“, ruft sie laut und läuft in Richtung der Vögel. Wer verlernt hat, sich über die kleinen Dinge im Alltag zu freuen, dem sei eine eineinhalbjährige Tochter empfohlen. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …“, heißt es nicht umsonst in der Bibel.

 

Spontan sein – mit Kind schwierig

 

Aber es gibt Momente, da mag man sich auch als Jungpapa nicht wirklich über diesen Entdeckergeist freuen. Nachts zum Beispiel. 3.30 Uhr, 4.20 Uhr, 5.50 Uhr – unchristliche Zeiten, um die sich aber eine hungrige, nach Mamas Brust weinende Luisa nicht schert. Wenn noch – wie im Winter wochenlang hintereinander – Schnupfen und Grippen hinzukommen, ist es mit der Nachtruhe aus.

 

Was hat sich noch verändert im Leben seit jenem 30. September 2009, Luisas Geburtstag? Kurz gesagt: Alles. Abendliches Ausgehen, regelmäßiger Sport, spontane Besuche – wie ferner Donnerhall klingt dieses frühere Leben in der Erinnerung nach. Natürlich gibt es das alles noch – manchmal –, nur eben ganz anders und auf Luisa abgestimmt. Flexibilität und Spontaneität fallen schwerer. Zugleich ist das Verständnis für all jene Eltern gewachsen, die wir früher gerne belächelt haben und die unsere verständnislosen Blicke nur mit einem knappen „Wartet ab, wenn ihr mal Eltern seid …“ quittiert haben. Nun sind auch wir „Insider“, Eingeweihte, die den Alltag rhythmisieren, die singend und quietschend durch den Supermarkt laufen, die täglich vier Mal dieselbe Kinderlieder-CD hören – alles, um Luisa bei Laune zu halten.

 

Neu sind die Fragen der Erziehung. Nach 18 Monaten hat Luisa nämlich den Sprung zur eigenen kleinen Persönlichkeit vollzogen, sie zeigt deutlich Ge- und Missfallen, hat ihren eigenen Kopf, ihre Launen, ihre Hochs und Tiefs. Wo geben wir nach? Beim Essen, wenn sie wieder einmal nichts außer Nudeln möchte? Beim Schlafen, wenn sie wieder einmal bis 22 Uhr kreischend vor Freude durch die Betten pflügt? Und wo sollte man gar Strenge, Disziplin zeigen?

 

Auch für die Partnerschaft bedeuten diese Fragen im Übrigen neue Herausforderungen. So wichtig Einigkeit in den wichtigsten Erziehungsfragen ist, so mühsam müssen diese erst einmal erstritten werden. Dabei geht es nicht nur Konkretes, Alltägliches, auch um Prinzipielleres wie etwa das Thema Religion.

 

Mühsam und erfüllend zugleich

 

Einig waren wir uns bislang zumindest mit der Taufe – diese fand im Mai in der Otto-Wagner-Kirche in Wien-Steinhof statt. Unzweifelhaft ein Höhepunkt des ersten Jahres mit Luisa.

 

Ein rheinischer Dichter hat einmal gesagt, das Geheimnis der Liebe sei es, sich eine Geschichte zu schaffen, gelebte Traditionen zu entwickeln. Bei uns lässt sich dies verdichten in ein paar Liedzeilen, die uns bereits bei unserer Hochzeit begleitet haben – und die auch bei der Taufe in leicht abgewandelter Form wieder zum Einsatz kamen:

 

Papa an der Gitarre, Mama „am Stimmband“, haben wir diese Geschichte fortgeschrieben. Für Luisa – mit folgenden Liedzeilen des Musikers Hubert von Goisern: Seitdem mia di bei uns g’spürn / seitdem mia wissn, du g’hörst zu uns / seitdem mia di so sehr liabn / kann’s nie so kålt sei’, dass ma friern. Auch wenn Luisa sich während der Gesangseinlage mehr für die anderen Kinder in der Kirche interessiert hat, für uns Eltern war es ein wichtiger, ein tiefer Moment.

 

Vaterschaft, so habe ich vor einem Jahr an dieser Stelle geschrieben, scheint mir ein Versuch zu sein, „dem Kind, meinem Kind, Heimat zu bieten, jenen Sehnsuchtsort greifbar zu machen, den wir Erwachsene oft nur mehr aus fernen Erinnerungen und wärmenden Träumen kennen“.

 

Ein Jahr später stelle ich erschöpft fest, wie mühsam und zugleich erfüllend dieser Anspruch ist. Und auch das habe ich geschrieben: „Das Leben wird intensiver, dichter und auch immer geschmackvoller durch Kinder – und, ja, auch das: Man dürstet nach mehr von diesem Leben!“ Dieser Durst, er ist nicht erloschen.

 

 

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Ich bin jetzt Papa! - Erfahrungen eines Jungvaters

 

Es ist der größte, bedeutendste Einschnitt im Leben: selbst Leben in die Welt zu setzen, Eltern zu werden. Die Welt ist plötzlich in ein Vorher und ein Nachher unterteilt, der Tag in ein „Schläft sie schon?“ und ein „Sie ist noch wach?“ – Ein Bericht eines Jungvaters und zugleich eine Liebeserklärung an seine Tochter

 

"Wir zwei sind jetzt zu dritt / und Nummer Drei kommt immer überall hin mit / im Grunde ist das alles wunderschön / ich muss mich nur noch schnell ein bisschen dran gewöh’n“. Mit diesen Worten beschreibt eine Kölner A-cappella-Band sehr zutreffend das Gefühl, wie es ist, wenn plötzlich neues Leben ins Leben tritt, wenn gewohnte Maßstäbe gründlich durcheinander geraten, wenn sich die Welt in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ teilt, wenn man plötzlich fühlt, schmeckt, riecht, was einem zuvor gefehlt hat.

 

Unser „Vorher“ endete am 30. September des vergangenen Jahres. Um exakt 18.50 Uhr trat mit einem kräftigen Schrei unsere Tochter Luisa in einem Wiener Spital in unser Leben. Nach den ersten Wehen und schier endlosen Stunden des Wartens ging plötzlich alles sehr schnell. Eine glatte, komplikationsfreie Geburt – zumindest aus dem Abstand von einem halben Jahr – und aus der Sicht eines Jungvaters, der sich alle Mühe gab und bis heute gibt, seine Rolle in jenem Stück brachialer Lebensentfaltung zu finden, in dem er eigentlich nur eine Nebenrolle spielt. Doch auch Nebenrollen können tragend sein, wie wir hilflosen Männer im Geburtsvorbereitungskurs eingetrichtert bekamen. Und so war ich es, der nach vier Stunden des Mit-Pressens, Mit-Atmens, Mit-Drückens und des hilflosen Hand-Haltens als Erster im großen Familienzimmer des Spitals in einen tiefen, emotional bewegten Schlaf fiel.

 

Am nächsten Tag, dem ersten unseres neuen Lebens, dann ein Mix aus ungläubigem Staunen und Hilflosigkeit: Das ist tatsächlich unsere Tochter, unser Kind! Nur: Wie wickelt man das kleine schreiende Paketchen richtig? Wie greife ich sie an, ohne ihr weh zu tun? Funktioniert das Stillen? Wie weggeblasen alle vorherige Gewissheit, alle Selbstsicherheit. Die erste Reise vom Spital heimwärts – ein Abenteuer, nicht nur für Luisa; die ersten Tage – eine Aneinanderreihung von Schlafens- und Stillzeiten für die gesamte Neo-Familie. Ein ganz besonderer Zauber, ein Glanz liegt über diesen ersten Tagen des gänzlich Neuen. Der Pulsschlag der Tage – ganz bestimmt vom Kind, die Entdeckung der Langsamkeit als gänzlich neue Erfahrung, das Büro, der alltägliche Stress – alles ganz weit weg. Langsam stellte es sich so in den ersten Wochen ein, träufelte es wie ein warmer Regenschauer in die Seele: das Gefühl, jetzt „Familie zu sein“.

 

Das erste Lächeln

 

Nach einigen Wochen dann das erste bewusste Lächeln, die ersten zaghaften Entdeckungsreisen mit den Händchen, die ersten Musterungen mit den wachen Augen – Lächeln, Bewegung, Welt-Begreifen – das alles und zu jeder Zeit, leider auch nachts um 2 Uhr. So hat sich unser Leben im Handumdrehen dem kindlichen Rhythmus angepasst. Fix seither die Rituale des Zu-Bett-Gehens, des Badens, des kurzen Schlafs am späten Vormittag, auch des gemeinsamen Kuschelns im Bett.

 

Elternschaft ist heute so spannend und zugleich so kompliziert wie eh und je. Es wäre früheren Generationen gegenüber vermessen, sich in einem Vor- oder gar Nachteil zu wähnen. Und doch haben Mutter- und Vaterschaft sich verändert. Welcher Jungpapa kann sich heute noch ernsthaft erlauben, nicht bei der Geburt live dabei zu sein? Von welchem Jungpapa wird heute nicht erwartet, am Wickeltisch fit zu sein, Argumente für und gegen das Impfen zu beherrschen, die Zusammensetzung der Folgemilchpräparate zu kennen oder sein Kind bei Wind und Wetter im Tragetuch durch den Großstadtdschungel zu transportieren – vom Babyschwimmkurs zur Baby-Osteopathie und zurück?

 

Und so staunen wir, wenn wir uns – selbst ein halbes Jahr nach der Geburt – noch immer mit den Paaren aus unserem Geburtsvorbereitungskurs treffen und über Wachstumsphasen, Ernährungsgewohnheiten und Schlafenszeiten erzählen. So unterschiedlich die einzelnen Kinder sind, so unterschiedlich sind ihre Eltern in ihrer Haltung zu Erziehungs-, Ernährungs- und Gesundheitsfragen. Wäre es nicht langweilig, gäbe es hier nur die eine Haltung? Wäre es nicht fad, wenn alle Eltern gleich wären (solange wir für dich die „besten“ Eltern bleiben, sage ich leise dazu …)?

 

Auch ich bin jetzt Papa!

 

Wenn ich heute das Wort „Vater“ sage, so klingt das noch immer fern für mich, es hat den Geschmack meiner eigenen Kindheit. Doch dann fällt mir ein: Auch ich bin jetzt Papa, habe Verantwortung für die beiden Händchen, die nach mir tasten, die Augen, die mich anstrahlen, ganz unvoreingenommen, entwaffnend offen und freundlich. Ich bin es auch, der zum Welterklärer werden muss, gar zur Werte-Instanz. Die drei großen Fragen Kardinal Königs – Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens? – werden verwandelt in eine einzige Antwort: Dieser kleine Mensch, dieses lächelnde Antlitz ist es, das jetzt und morgen mich braucht, das nicht „etwas“ von mir erwartet, sondern mich, meine Präsenz.

 

Doch Vaterschaft bedeutet noch mehr: Es ist auch die Sorge um die Mutter, die entschieden darauf pocht, nicht nur Mutter, sondern auch Frau, Ehefrau zu sein. Auch wenn Elternschaft das Ende jedes Egoismus bedeutet, so bedeutet es noch nicht das Ende der Zweisamkeit. Im Gegenteil: Unsere Tochter wurde zu einem Herzschrittmacher, der unsere Herzen in synchronen Gleichklang versetzte, der uns noch näher zueinander brachte.

 

„Das Leben wird intensiver, dichter und immer geschmackvoller – und am Ende dürstet man nach mehr von diesem Leben“ – mit diesen Worten habe ich vor fünf Jahren in dieser Zeitschrift die Erfahrung des Pilgerns in Worte zu fassen versucht, die Erfahrung dessen, was das Pilgern mit dem Pilger macht, wie es ihn zu einem anderen Menschen machen kann. – Um wie viel mehr trifft das nun auf Eltern-, auf Vaterschaft zu! Das Leben wird intensiver, dichter und, ja, auch immer geschmackvoller durch Kinder – und, ja, auch das: Man dürstet nach mehr von diesem Leben!

 

Dem Kind Heimat bieten

 

Was also ist Vaterschaft? Vielleicht vor allem das: Der Versuch, dem Kind, meinem Kind, Heimat zu bieten, jenen Sehnsuchtsort greifbar zu machen und möglichst lange zu konservieren, den wir Erwachsene oft nur mehr aus dunklen, fernen Erinnerungen und wärmenden Träumen kennen.

 

Enden möchte ich mit einem kleinen Vierzeiler, dem Ausschnitt eines Gedichtes, das mein Großvater vor mittlerweile über 30 Jahren für mich geschrieben hat. Ich selbst stamme vom Niederrhein – im Übrigen nur wenige Kilometer entfernt vom Mutterhaus der Steyler Missionare –, daher ist das Gedicht auf Plattdeutsch gehalten. Darunter die Übersetzung für die hiesigen Leserinnen und Leser, damit auch sie sich einfühlen können in die Wärmestube (groß-)väterlicher Herzen, die entbrannt sind für den kleinen neuen Erdenbürger, der ihn mit kleinen Gesten in den großen Bann schlägt:

 

Wenn dat Kleen mech so aanlächelt

On hä striek mech om dat Kenn

Met de kleene zarte Händsches

merk ech, wie verliebt ech ben.

 

(Wenn das Kleine mich so anlächelt

und es streicht mir um das Kinn

mit den kleinen zarten Händchen

merk ich, wie verliebt ich bin.)

 

 

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Ich bin jetzt Papa!
Erfahrungsbericht eine "Jungvaters" - zugleich eine Liebeserklärung an seine Tochter
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