Eintritt frei!
Die Zahl der Kirchenaustritte ist weit höher als die der Wieder- und Neueintritte. Trotzdem machen die bescheidenen Aufnahmezahlen Hoffnung, denn sie stehen für den Übergang von einem "Traditionschristentum" hin zu einem "Entscheidungschristentum".
Erschienen in: LiMa 18/2012
Bleiben oder Gehen? Diese Frage haben sich in den vergangenen zwei Jahren wohl Hunderttausende Katholiken angesichts des Missbrauchsskandals in der Kirche gestellt. Mehr als 180.000 entschieden sich allein 2010, dem Jahr, in dem die Krise ausbrach, fürs Gehen. Im vergangenen Jahr belief sich die Zahl der Austritte in Deutschland mit rund 130.000 noch immer auf Höchstniveau. Blutet die Kirche langsam aus?
Auch wenn die absoluten Zahlen dramatisch klingen – allein in Deutschland gehören immer noch rund 25 Millionen Menschen der katholischen Kirche an, die evangelischen Kirchen kommen auf rund 24 Millionen Gläubige. Anders gesagt: Zwei Drittel der Menschen im Land zählen sich zu einer christlichen Konfession.
Dennoch sind die Zahlen alarmierend. Denn sie zeigen ein massives Problem auf: In wenigen Jahren wird die Zahl der "o.K.‘s", derjenigen Menschen "ohne Konfession", also ohne jede religiöse Bindung, die Zahl der Gläubigen eingeholt haben. Ganz zu schweigen von den ostdeutschen Bundesländern. Das Problem besteht für die Kirchen zunächst in einem massiven Einnahmenverlust, der es ihnen zusehends schwerer macht, ihr soziales Dienstleistungssystem aufrecht zu erhalten. Aber es besteht auch darin, dass durch den Schwund der Gläubigen der Eindruck entsteht, dass die Kirche den Menschen offenbar kaum mehr etwas – oder gar das Falsche – zu sagen hat. Mit Goethes Faust gesprochen: Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Neue pastorale "Lieblingsspezies"
In dieser Situation haben Pastoraltheologen wie Bischöfe ein neues pastorales Schlagwort und eine neue "Lieblingsspezies" entdeckt: die "Neuevangelisierung" als Konzept einer missionarischen Kirche – und dessen Zielgruppe: die Wiederkehrer und die kirchlichen "Newcomer", jene, die erst im Erwachsenenalter in die Kirche eintreten. Auf sie setzen sie ihre Hoffnung auf dem Weg der Kirche von einem "Traditionschristentum" hin zu einem "Entscheidungschristentum". Doch ist die Hoffnung tatsächlich berechtigt, auf den Wiederkehrern und Neo-Katholiken die Kirche der Zukunft aufzubauen?
Zahlenmäßig sind sie wenige, zu wenige für eine Kirche, die sich als Volkskirche versteht. 7.163 Wiedereintritte verzeichnete die kirchliche Statistik im vergangenen Jahr. Ein Jahr zuvor, 2010 – dem Jahr des Aufbrechens der Missbrauchskrise – lag ihre Zahl noch höher, bei 7.401. Dazu kommen noch rund 3200 Übertritte aus anderen Religionen beziehungsweise Konfessionen. 2.700 von ihnen kamen im Vorjahr aus der evangelischen Kirche. Macht unter dem Strich rund 10.000 Personen, die Jahr für Jahr im reifen Alter und nicht per Kindertaufe den Weg in die katholische Kirche finden. Zu wenig, um die 130.000 Austritte pro Jahr auszugleichen.
Für den Pastoraltheologen Paul M. Zulehner besteht kein Zweifel: Grund Nummer 1 für die enormen Austrittszahlen sind weiterhin die Nachwirkungen des Missbrauchsskandals, gepaart mit einem starken Vertrauensverlust angesichts einer von der Kirchenleitung verschleppten Reformdebatte. Dennoch zeigen laut Zulehner Studien aus Österreich: Es lohnt sich, um diese Ausgetretenen zu kämpfen.
Viele Austritte waren spontane Reaktionen
Denn etwa die Hälfte gibt an, im Affekt gehandelt und den Austritt aus einer spontanen Reaktion heraus erklärt zu haben – und nun trauern sie dieser Entscheidung nach. "Ich bin ausgetreten und hatte von Anfang an das Gefühl, das stimmt nicht für mich", bestätigt etwa eine wieder eingetretene Ärztin im Interview mit der katholischen Presseagentur Kathpress diesen Befund. Und so sprießen allerorts Wiedereintritts-Kampagnen und niederschwellige Angebote zur Kontaktaufnahme.
Jede Diözese bietet Ansprechpartner oder hat eigene Beauftragte und Arbeitsstellen für den Erstkontakt mit Ein- und Beitrittswilligen. Über 300 Ansprechpartner – von Priestern über Mitarbeiter der City-Pastoral bis hin zu Ordensleuten – in allen 27 Bistümern Deutschlands betreuen die Interessenten und begleiten diese auf ihrem Weg in oder zurück in die katholische Kirche. Koordiniert werden einige der überdiözesanen, vor allem auf das Internet setzenden Angebote von der "Arbeitsstelle für missionarische Pastoral" der Deutschen Bischofskonferenz.
Niederschwelliger Erstkontakt
Im Juli 2012 startete die Arbeitsstelle die neue Kontaktseite www.internetseelsorge.de, um angemessen im Internet präsent zu sein, das "auch für die Kirche verstärkt zu einem Raum der Pastoral geworden" ist. Seit 2009 hat die Arbeitsstelle auch die Leitung des bereits seit dem Jahr 2003 laufenden Projekts www.katholisch-werden.de übernommen. Derzeit wird an einem neuen Konzept gefeilt. Rund 1000 Kontaktaufnahmen per E-Mail verzeichnet das Internetportal pro Jahr.
Den Erfolg der Seite erklärt Stefan Kemmerling, der sie als theologischer Referent seit 2003 mit aufgebaut hat, mit der Anonymität des Internets: "Oft fühlen sich Menschen unwohl bei dem Gedanken, mit einem Fremden über das sehr private Thema des Kircheneintritts zu sprechen. Damit Interessenten ihre erste Hemmschwelle überwinden können, bietet die katholische Kirche mit dieser Website eine Alternative im Internet an." Viele Menschen betrachten laut Kemmerling den Gang zum eigenen Pfarrer als Hürde. Da springt die Website ein, denn: "Es ist wichtig, dem Interessenten den ersten Kontakt so einfach wie möglich zu machen."
Über einen Postleitzahlensucher können Interessierte aus dem Netz heraus in den Regionen kirchliche Kontaktpersonen in ihrem Umfeld ermitteln. Die kirchlichen Ansprechpartner stehen extra für die Menschen zur Verfügung, die sich mit dem Wunsch beschäftigen, in die Kirche (wieder)einzutreten. So entsteht ein direkter Draht bis in das jeweilige Bistum hinein. Klöster, Citypastoralprojekte und Kirchengemeinden arbeiten in dem deutschlandweiten "Projekt Kirchenwiedereintritt" zusammen. Niederschwelligkeit ist das Ziel. Eintritt überall, elektronische „Pfarrfinder“ machen es möglich.
Häufigster Grund für die Rückkehr in die Kirche sind konkrete Anlässe, Lebenssituationen oder gar persönliche Gotteserfahrungen. Bedenken und Gründe, die zum Austritt führten, treten in diesen Situationen in den Hintergrund. Aber auch darauf weisen die Verantwortlichen sowie die Theologen hin: Der Kircheneintritt ist keine Bagatelle. Kein Eintritt in einen Verein oder Club. Denn Kirche ist nicht nur die Gemeinschaft der Gläubigen, sie ist immer auch selbst Sakrament und ein Vorgeschmack des Kommenden.
Der Eintritt ist keine Bagatelle
Daher gehen einem Wiedereintritt auch intensive Gespräche voraus, bei denen nicht nur die Zeremonie der Wiederaufnahme besprochen wird, sondern persönliche Motive des Aus- und Wiedereintritts reflektiert werden. Doch was bewegt Menschen tatsächlich, den Schritt in die Kirche zu tun? Trotz allem Ja zu sagen. "Die Tür zur Kirche war die Kunst. Und der Schlüssel war die Geburt und die Taufe meines Sohnes", beschreibt etwa der Künstler Gerd Mosbach seinen Weg, der ihn im Jahr 2002 in die Kirche führte.
Aufgewachsen ohne religiöse Prägung, stellte er sich nach einigen Jahren im Berufsleben "auch nach einigen Rückschlägen und Krisen" die Frage, ob das bereits alles gewesen sei. "Ich habe mir dann die Frage gestellt, ob der christliche Glaube wirklich Antwort auf meine innere Leere gibt und er ein echtes Bedürfnis darstellt. Das habe ich mir positiv beantwortet und dann den Schritt gemacht." Nach einer intensiven Vorbereitungsphase, dem sogenannten Katechumenat, wird die Taufe für viele Neuankömmlinge somit zu einem bewegenden Ereignis.
Und doch bleibt der Glauben für sie durch die Reife ihres bisherigen säkularen Lebens gebrochen: "Meine Erkenntnis, an Gott zu glauben, muss ich mir jeden Tag wieder neu erkämpfen. Ich muss immer neu über mein Verhältnis zu meinem Glauben und zu Gott nachdenken. Es gibt Menschen, bei denen sprudelt es heraus. Bei mir ist das etwas zäher."
Zäh, aber umso tragfähiger, sagen die Theologen, die ebenso wie Bischöfe zunehmend auf die Entscheidungschristen“setzen. Und in der Tat: Wenn man nachfragt, stößt man oftmals auf tiefe Gründe für diese Entscheidung. "Ich habe gespürt, dass ich mich mit der Gottesfrage nochmals auseinandersetzen will", sagt etwa Jakob Glashüttner, ehemaliger Produktionsleiter an der Grazer Oper und "Wiederkehrer". Die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Büchern Joseph Ratzingers, des heutigen Papstes, habe in ihm "eine tiefe Sehnsucht geweckt, dabei zu sein".
Und auch da könnten sich die Hoffnungen der Kirchenleitung erfüllen: Denn in den Aussagen der Wiederkehrenden ist vor allem eine starke Konsequenz, Selbstsicherheit und damit auch Bereitschaft, für die Kirche zum Zeugen des Glaubens zu werden, zu spüren. "Ich möchte dieses Ja zu Jesus in seiner Gemeinschaft, der Kirche, mit all seinen Konsequenzen gehen", sagt Glashüttner.
Bleiben - trotz allem
Dennoch, der Zweifel bleibt steter Begleiter und kritisches Korrektiv. Und er ist selbst im Kernsegment der kirchlich Sozialisierten längst angekommen und nagt an Seelen und Herzen. So publizierte etwa der Münsteraner Theologe Tiemo Rainer Peters unlängst eine tiefe persönliche Reflexion und zugleich Bilanz eines langen Theologen-Lebens unter dem Titel "Zwischen Gehen und Bleiben". Er bleibt, bis heute, trotz enormer Anfechtungen, wie er schreibt.
Dabei hat sein Bleiben – und damit spricht er wohl vielen Noch-Katholiken aus der Seele – Trotz-Charakter: "Ich bleibe in der Kirche, weil ich mich nicht halbverrichteter Dinge von der ‚Baustelle’, die sie immer noch ist, davonstehlen will. Ich mag das Unfertige, Fragmentarische. Ich bleibe in der Kirche, weil die Kirche in ihrer teilweise vormodernen Hilflosigkeit mich braucht, auch meine Kritik.“
Letztlich hat die Kirche einen großen Trumpf im Ärmel, der auch bei Zweiflern und Kritikern immer wieder "sticht": Sie hat Antworten auf die großen, vielleicht sogar die einzigen wirklichen Fragen im Programm: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens?
Fragen, die in ihrer Schlichtheit jedes Leben auf den Kopf stellen können, die ins Innerste führen – und die zugleich heute bei vielen Menschen in besonderer Dramatik auf Antworten warten: Denn die Suche nach Orientierung in einer komplexer werdenden Welt, nach Sicherheit, wohl auch nach Geborgenheit, wo die Globalisierung den Menschen entgrenzt – dies alles bedrängt Menschen von heute mehr denn je, und es lässt sie zu Perlentauchern in einem bewegten Meer von Antworten aus den unterschiedlichsten Strömungen und Richtungen werden.
"Endlich zur Welt und mir selbst kommen"
Man muss kein Religionssoziologe sein, um die christlichen Antworten, die – gebrochen und durchkreuzt von Leiderfahrungen, von Anfechtungen und Zweifeln – oft nur angedeutet werden können, als reizvoll, vielleicht gar als überzeugend zu betrachten. Und wer angesichts dieser Fragen und Antworten in der Kirche bleibt, wer zurückkommt oder gar neu ankommt, der mag, abermals mit Tiemo Rainer Peters gesprochen, diesen Schritt begründen mit einem großen, einem kraftvollen Argument:
"… weil ich nicht vorhabe, dieses grandiose Angebot, das mein Denken produktiv überfordert,
wieder preiszugeben, um am Ende vielleicht haltlos und kopfüber in der 'Erlebnisgesellschaft'
unterzutauchen, die an mir gar kein Interesse hat, bleibe ich in der Gemeinschaft der Getauften – 'aufgetaucht', das heißt, endlich zur Welt gekommen – und zu mir selbst."
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Wer hat die Macht im Vatikan?
Spekulationen und Enthüllungen erschüttern derzeit den Vatikan. Dabei geht es auch um Macht. Wer sie hat und beeinflusst im "System Vatikan"
Erschienen in: LiMa 13 / 2012
Wie viele Divisionen hat der Papst?" Mit diesen spöttischen Worten lehnte Josef Stalin angeblich die Beteiligung des Vatikans an den Friedensverhandlungen nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Sie brachten dabei jedoch eine bis heute gültige Tatsache auf den Punkt: In rein weltlichen Kategorien bemessen besitzen Papst und Kirche keine Macht.
Damit könnte dieser Text über die Macht in der Kirche bereits enden, wären da nicht die vielen kleinen Zwischentöne und Nuancen im Begriff der Macht, durch die die katholische Kirche bei genauem Hinsehen doch wieder zu einem Global Player auf allen Ebenen wird. Und wären da nicht jene, von Verschwörungstheorien eng durchwobenen Vorgänge in der letzten Woche, die sich selbst ein Autor wie Dan Brown nicht bunter und dramatischer hätte ausdenken können. Vorgänge, die zugleich deutlich machen, dass Kirche immer auch ein weltlicher, ein von einem Rechtssystem reglementierter Raum ist. Der Papst ist eben nicht nur geistliches Oberhaupt, sondern zugleich Exekutive, Judikative und Legislative des Vatikanstaates in einer Person.
Wirbel um eine Entlassung und eine Verhaftung
Tatsächlich griff der machtvolle Arm der Kirche just in jenen beiden Bereichen zu, in denen die Kirche gegenwärtig noch eine Bastion der Macht ist: im Bereich der Finanzgeschäfte sowie im Bereich der Informationspolitik. So wurde der Präsident der Vatikanbank IOR, Ettore Gotti Tedeschi, durch ein Misstrauensvotum der zuständigen Kardinalskommission von der Spitze der Bank entfernt, und der Kammerdiener des Papstes, Paolo Gabriele, wegen der Weitergabe von Geheimdokumenten von der vatikanischen Gendarmerie gefasst.
Insbesondere die "Causa Gabriele" sorgt gegenwärtig für ein lautes Rauschen im Blätterwald der italienischen Zeitungen. Die "Vatikanisti" - ein elitärer Club von Vatikan- Journalisten - sind sich dabei einig: Gabriele, der tiefgläubige und dem Papst ergebene Familienvater, mag Dokumente aus dem "inner circle" um den Papst entwendet und vielleicht gar Journalisten zugespielt haben - der entscheidende "Kopf" hinter all den Enthüllungen der vergangenen Wochen ist er jedoch nicht. Geld könnte eine Rolle gespielt haben, meint etwa der anonyme "Maulwurf" von "La Stampa". Und diese Quelle sagt auch, was viele vermuten: dass die Enthüllungsaktion letztlich gegen Kardinalsstaatsekretär Tarciso Bertone gerichtet ist, der manchem im Vatikan inzwischen zu mächtig geworden sei.
Befeuert werden diese Spekulationen durch aktuelle Berichte der Gendarmerie, die in der Wohnung Gabrieles offenbar vier Kisten mit Dokumenten sichergestellt hat. Und zwar mit vertraulichen Papieren aus einem längeren Zeitraum. Zudem waren einige der Dokumente, die im Buch des Enthüllungs- Journalisten Gianluigi Nuzzi "Sua Santita" im Faksimile wiedergegeben sind, nicht für das Archiv des Staatssekretariats bestimmt und dort registriert. Sie konnten somit nur aus dem Papst- Appartament direkt entwendet worden sein - was letztlich zur Überführung des Kammerdieners führte. Darunter war etwa eine von Papstsekretär Prälat Georg Gänswein verfügte Überweisung von der Ratzinger-Stiftung für die Vatikanbank IOR.
Gewiss, dies alles liest sich wie ein Krimi. Dennoch ist im Blick auf die Macht des Vatikans eine Entmythologisierung angesagt. Denn tatsächlich ist Macht, wie sie in der Administration des Heiligen Stuhls rechtlich geronnen ist, ein sehr relativer Begriff. Selbst die päpstliche "Allmacht" als absoluter Monarch des Vatikanstaates - wenn auch de facto seit dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 in Lehrund Sittenfragen festgeschrieben - ist in hochgradig ausdifferenzierte Meinungsbildungs- und Entscheidungsinstanzen eingebettet.
Dem Papst ist seine Macht nur geliehen
Für demokratiegeübte Zeitgenossen mag diese Machtfülle dennoch ein nur schwer zu begreifendes Gräuel sein. Aber tatsächlich ist die Macht des Papstes eine Macht der Stellvertretung: Sie ist ihm als Oberhaupt der Kirche geliehen. Daher ist sie auch nur begreifbar, wenn man ein über die bloße weltliche Dimension hinausgehendes Moment in ihr erkennt. Ein Moment, das der Evangelist einfängt, wenn er Jesus sagen lässt: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen". Macht in kirchlicher Semantik ist immer mehr als nur Macht. Sie meint Gabe, unverdiente Gnade und ebenso verantwortungsvolle Bürde. "Ich habe keine anderen Hände als die Euren", heißt es etwa passend auf einem Kreuz in einer Kirche im westfälischen Münster. Daher ist es zwar wahr, dass der Papst absoluter Monarch ist - ein Willkürherrscher ist er deshalb noch lange nicht.
Außerdem darf man nicht vergessen: Auch Vatikan und Papstamt sind nicht vom Himmel gefallen, sondern selbst Ergebnis langer, verschlungener historischer Entwicklungen. Aus der anfänglichen kollegialen Leitungsstruktur ohne den "Primus inter pares", den Ersten unter Gleichen, ging erst langsam ein komplexes System von Zuständigkeiten hervor. Heute kann der Papst mit der Kurie auf einen komplexen und gleichwohl machtvollen Verwaltungsapparat zurückgreifen.
Die Kurie gliedert sich in das Staatssekretariat, neun Kongregationen, elf Päpstliche Räte, drei Gerichte und weitere Einrichtungen wie die Päpstlichen Akademien, Kommissionen, die vatikanischen Medien, die Archive und Bibliotheken. Angesichts von rund 1,1 Milliarden Katholiken weltweit nehmen sich die rund 2700 Mitarbeiter der Kurie denkbar bescheiden aus. Präzision ist gefragt und natürlich Diskretion.
Dass man es in der Kirche mit Machtverhältnissen und eben nicht mit demokratischen Strukturen zu tun hat, merkt vor allem der einfache Gläubige. Seien es Fragen der Moral, der Sittenlehre, seien es Auflagen zum Sakramentenempfang wie etwa Einschränkungen für wiederverheiratete Geschiedene - stets regeln die Canones (Paragraphen) des kirchlichen Gesetzbuches ("Codex Iuris Canonici"), die Lehrentscheide der Glaubenskongregation und natürlich die nationalen Bischofskonferenzen den konkreten Glaubensvollzug.
Die Macht bekommen die Gläubigen zu spüren
Tatsächlich besteht der Codex zu gut einem Drittel aus Straf- und Prozessbestimmungen. Ausgedehnte kirchliche Strafenkataloge sollen Gewalt und Recht binden, aber sie wirken auf den Laien zugleich wie eine lustvolle Fokussierung auf menschliche Verfehlungen. Doch auch hier muss gelten: Der Buchstabe bindet die Macht. Rechtsprechung ist keine Willkür, sondern an Vorgaben gebunden, auf die sich auch der einfache Gläubige jederzeit berufen kann. Nicht umsonst wurden - übrigens zum ersten Mal überhaupt - den Laien im CIC von 1983 ausdrückliche Rechte eingeräumt.
Auch wenn der Kirchenstaat seine Legitimation aus höheren Quellen bezieht: Vatikan und Papst sind und bleiben eminent politische Subjekte. Wer daran Zweifel hegt, der möge sich an die friedlichen Umstürze in Osteuropa 1989 erinnern, die nicht zuletzt Frucht der Diplomatie und des politischen Einflusses Johannes Pauls II. in Polen waren. Die dem Papstamt entspringende politische Macht ist dabei jedoch nicht mehr einer manifesten Streitmacht oder dem Charisma des Amtes verdankt.
Politische Macht ist im Vatikan heute das Ergebnis harter diplomatischer Arbeit. Diese wird vor allem durch die rund 180 "Außenstellen" des Vatikans - die Nuntiaturen genannten Ländervertretungen - geleistet. Anders gesagt: "Die" Währung der politischen Macht heute ist die Information. Und in dieser Währung ist der Vatikan durchaus noch sehr liquide. Denn das ist sein Pfund, mit dem er wuchern kann: die zahlreichen, hochqualifizierten, an eigenen Akademien ausgebildeten Diplomaten, die detailliert über Situationen in Ländern berichten.
Außerdem verfügt der Vatikan über ein weltweites Mediennetz. "Radio Vatikan", aber auch die Vatikanzeitung "Osservatore Romano" und - in jüngerer Zeit die Webaktivitäten des Heiligen Stuhls sorgen dafür, dass "die Stimme des Papstes in der Weltkirche" nicht verstummt. Aber was wäre alles diplomatische Geschick ohne einen gewissen "pekuniären background": Der Vatikan und seine Finanzen sind ja immer wieder Anlass von Spekulationen und Verschwörungstheorien gewesen.
Gewiss, der Vatikan ist auch eine Wirtschaftsmacht. Genauer gesagt: die Kirche. Denn der Haushalt des Heiligen Stuhls nimmt sich mit rund 250 Millionen Euro geradezu bescheiden aus. Jede größere Diözese verfügt über ein üppigeres Budget.
Die Vatikanbank im Verdacht der Geldwäsche
Für regelmäßiges mediales Interesse sorgt die mythenumrankte Vatikan-Bank IOR ("Institut für die religiösen Werke"). Bekannt wurde die IOR in den 1980er Jahren durch einen handfesten Skandal, als sie in den Geruch von Geldwäsche und Mafia-Kontakten kam. Höhepunkt war 1982 die Verwicklung der IOR in den Untergang der Mailänder Banco Ambrosiano - auch wenn der Vatikan bis heute jede Verantwortung abstreitet. Johannes Paul II. hat die Bank in der Folge auf gänzlich neue institutionelle Füße gestellt.
Das in der IOR gehortete Vermögen wird heute auf rund sechs Milliarden Euro geschätzt. Der daraus erwirtschaftete Gewinn steht dem Papst zur Verfügung. Johannes Paul II. machte damit durchaus Politik: Er unterstützte etwa maßgeblich die polnische Gewerkschaft Solidarnosc im Kampf gegen die kommunistischen Machthaber.
Zuletzt ist die IOR erneut in die Schlagzeilen geraten. So wurde im März bekannt, dass die USA den Vatikan auf eine Liste von Staaten gesetzt haben, die wegen des Verdachts auf Geldwäsche beobachtet werden. Die Vatikanbank wird derzeit daraufhin geprüft, ob sie internationale Standards im Kampf gegen Geldwäsche und dubiose Finanzgeschäfte sowie Terrorfinanzierung einhält. Ende 2010 hatte Papst Benedikt XVI. eine vatikanische Finanzaufsichtsbehörde geschaffen, die über Beachtung der entsprechenden Normen wachen soll. In diesem Zusammenhang wurde nun Bankchef Tedeschi der Rücktritt nahegelegt.
Über das Portfolio des Vatikans ist wenig bekannt. Es besteht zu etwa drei Vierteln aus festverzinslichen, also konservativ veranlagten Wertpapieren, der Rest sind Aktien. Die Orden besetzen gerne Schaltstellen Pro Jahr erwirtschaftet der Vatikan Zinserträge von rund 30 Millionen Euro. Hinzu kommen rund 80 Millionen Euro pro Jahr an Spenden und Zuwendungen aus aller Welt. Der von allen Diözesen für den Vatikan gesammelte "Peterspfennig" bringt nochmals rund 70 Millionen Euro ein. Hinzu kommt Immobilienbesitz vor allem in Italien. Bei der Zahl der Objekte schwanken jedoch die Angaben erheblich - zwischen 800 und 2500. Der daraus erwirtschaftete Erlös beträgt pro Jahr rund 30 Millionen Euro.
Bleibt am Ende noch ein gewichtiger, schwer zu fassender "Player" der vatikanischen Politik: die Orden. Seien es die Jesuiten, die Legionäre Christi oder das Opus Dei: Sie alle sind zweifellos auf Einfluss in den Leitungsgremien bedacht. Wer es schafft, wichtige Posten mit eigenem Personal zu besetzen, wie etwa die Salesianer mit Tarcisio Bertone oder die Jesuiten mit Presseamtschefs Federico Lombardi, der zählt in der innerkirchlichen Machtlogik. Aber darüber hinaus? Natürlich, es ist verlockend für Gemeinschaften, Personen an Schaltstellen zu positionieren - aber man sollte diesen Einfluss auch nicht überschätzen.
Als "Aufsteiger" gelten im Pontifikat Papst Benedikts XVI. die Salesianer, "Communione e Liberazione", die "Legionäre Christi", aber auch die einflussreichen "Kolumbusritter" und die Jesuiten: konservative Gruppen mit finanzkräftigen Zirkeln im Hintergrund.
Macht kann auch zu Machtmissbrauch führen
Gewiss, auch die "andere Seite" dieser effektiven Funktionalität darf nicht unerwähnt bleiben: Die reale Möglichkeit des Machtmissbrauchs. Beispiele sind etwa von Bischöfen ausgesprochene Rede- Diskussionsverbote oder Drohgebärden gegen "Ungehorsame". Genauer betrachtet handelt es sich dabei um Machtspielchen, um Interessenspolitik.
Wie viele Divisionen hat also der Papst? Wenige Jahre nach dem Tod Stalins soll Papst Pius XII. die Frage beantwortet haben: "Jetzt wird er sehen, wie viele Divisionen wir haben." Und wenn es nicht stimmen sollte, so wäre das Zitat zumindest gut erfunden - wie so vieles rund um den Mythos Macht im Vatikan.
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Der Zen-Christ
Pater David Steindl-Rast ist Benediktinermönch und Zen-Meister. Damit ist der Austro-Amerikaner einer der bekanntesten spirituellen Lehrer der Gegenwart und ein Brückenbauer zwischen den Religionen
Erschienen im LiMa 6 / 2012
Wie sieht für Sie ein "good day" aus, ein guter Tag? Er verläuft vermutlich harmonisch, ruhig, ist in warme, üppige Farben und sanfte Klänge getaucht. Viel Lächeln gehört zweifellos dazu – und eine große Portion Dankbarkeit. Das sind die Träume, die Kitsch erzeugen können – oder Spiritualität.
Von letzterem ist David Steindl-Rast, Benediktinermönch und einer der bekanntesten spirituellen Lehrer der Gegenwart, überzeugt. Entsprechend erfreut sich sein Youtube-Video „A good day“ größter Beliebtheit in der Online-Community. „Lasst die Dankbarkeit überfließen in einen Segen, der euch umgibt“, rät seine warme, von lebenssattem Bass gefärbte Stimme.
Billige Wohlfühlrhetorik? Niederschwellige Fastfood-Esoterik? Der Verdacht liegt nah. Und doch würde es dem tiefen Denker und Gottesmann alles andere als gerecht werden. „Brother David“ ist ein gefragter Redner, Lehrer, gern gesehener Gast in katholischen Bildungshäusern ebenso wie in buddhistischen Meditationszentren. Mystik ist seine Mission – allerdings keine abgehobene, ihrer Erdung entledigte Mystik, sondern vielmehr eine Mystik des Alltags, des unbedingten Lebens im Jetzt in seiner ganzen Tiefe. Er gilt daher auch als interreligiöser Brückenbauer, tief überzeugt davon, dass Gottes Geist in und aus jedem spricht.
Kein Wunder also, dass einer seiner jüngsten Bucherfolge „Credo. Ein Glaube, der alle verbindet“ heißt – und ein Vorwort des Dalai Lama enthält. Doch auch hier wird die Gratwanderung des 85-Jährigen sichtbar, unternimmt Steindl-Rast doch nichts Geringeres als den Versuch, das Herzstück des christlichen Glaubens – das Glaubensbekenntnis – auf seine weltumspannende, all- und damit auch andere Religionen umfassende Kraft abzuklopfen. Das „Ich glaube“ des Glaubensbekenntnisses – für Steindl-Rast ist es nicht Ausdruck eines exklusiven Wahrheitsanspruchs, sondern Ausdruck eines „Ur-Glaubens“. Auch hier wieder: Frevel für die einen, ein Tür-öffnendes Aha-Erlebnis für die anderen.
Auch seine Biografie atmet den Duft der Freiheit eines spirituellen Globetrotters. Am 12. Juli 1926 wurde er als Franz Kuno Steindl-Rast in Wien geboren, wo er Kunst-, Psychologie und Anthropologie studierte. 1944 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Ein „großer Schutzengel“, wie er sagt, bewahrte ihn jedoch vor tatsächlichen Kampfeinsätzen.
Nach dem Krieg wanderte seine Familie 1952 aus wirtschaftlichen Gründen in die USA aus. Schon im Jahr darauf trat er in das damals neu gegründete Benediktinerkloster Mount Saviour im US-Bundesstaat New York ein, wo er schon bald seine ungewöhnlichen Zugänge und spirituellen Wege zu nichtchristlichen Religionen suchte, freilich ohne die Wurzeln zur eigenen religiösen Heimat zu kappen.
Ein interreligiöser Brückenbauer ist Steindl-Rast spätestens seit 1965, als er – im ökumenisch-interreligiösen Aufbruchsgeist des Zweiten Vatikanischen Konzils – von seinem damaligen Abt beauftragt wurde, sich dem Dialog zwischen Christentum und Buddhismus zu widmen, und er Erfahrungen mit verschiedensten Zen-Meistern sammelte.
Im Jahr 1968 gründete er gemeinsam mit Rabbinern, Buddhisten, Hindus und Sufis, einer islamistischen Strömung, in den USA das „Center for Spiritual Studies“. 1989 initiierte er zusammen mit dem Zen-Mönch Vanja Palmers im österreichischen Dienten das „Haus der Stille“, das jedem Interessierten Zugänge zum kontemplativen Leben einer Klostergemeinschaft ebnen soll.
Phasen der Kontemplation und des forcierten öffentlichen Lebens wechseln sich bei Steindl-Rast gleichmäßig ab. Die Hälfte des Jahres verbringt er als begehrter Vortragsreisender, er hält Lesungen aus seinen Büchern und leitet Seminare. In der anderen Jahreshälfte zieht er sich zurück – meist in Klöster und Eremitagen –, um dort zu beten, zu meditieren und Psalmen zu singen. Aber auch die benediktinische Tradition elementarer körperlicher Arbeit im Garten pflegt er. „Das Entscheidende ist, und das fällt leichter in der Einsiedelei, nicht abgelenkt zu werden.“
Das Leben im Jetzt – es vollzieht sich für ihn in der harten körperlichen Arbeit ebenso wie im Ertasten einer göttlichen Tiefe unter dieser oft so banalen Oberfläche des Alltags. „Gratefulness“, Dankbarkeit, ist für Steindl-Rast daher die wichtigste menschliche Haltung den Dingen gegenüber. „Auch im Unglück kann man dankbar sein“ – für die Gelegenheit, Geduld zu lernen, Verständnis für andere zu haben, zu wachsen.
Und wo bleibt da das genuin Christliche, wo bleibt das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus? Hier ist Steindl-Rast – anders als die inflationäre Masse an spirituellen Lehrern – nicht beliebig oder gar synkretistisch, sondern theologisch versiert: Glauben an Christus, das bedeutet, an eine „gottmenschliche Wirklichkeit zu glauben“ –, und dieser Wirklichkeit gehören alle Menschen gleichermaßen an. Die historische Person Jesu ist dabei Ankerpunkt dieses Glaubens, er stellt das „Rollenmodell“ für diese besondere, neue Form der Wirklichkeit dar, ist Steindl-Rast überzeugt. Und er sieht sich dabei nicht in einer theologischen Außenseiterrolle, sondern tief verwoben in die christliche Tradition.
Dennoch lassen sich nicht alle kritischen theologischen Einwände so einfach tilgen. Es bleiben Angriffspunkte. So weist Steindl-Rast etwa dort eine offene theologische Flanke auf, wo er das Jetzt so sehr betont, dass die biblische Erlösungshoffnung, die Hoffnung auf das Reich Gottes als das ganz Andere unterbelichtet bleibt. Nicht umsonst zählt er die Stelle aus dem Lukas-Evangelium – „Das Reich Gottes ist jetzt schon unter euch“ – zu seinen Lieblingszitaten. Das Drängen der Offenbarung – „Maranatha! Komm, Herr Jesus!“ – indes fehlt bei ihm.
Solche Einwände fechten Steindl-Rast jedoch wenig an. Denn natürlich weiß auch er um das Ende aller Dinge, weiß um den auch für ihn persönlich nahenden Tag des Abschieds, den Schmerz des Bewahren-Wollens, das Ringen um Trost. Er ist ein reifer, alter Mann geworden. Eine Tatsache, die er zuletzt in dem berührenden kleinen Büchlein „Und ich mag mich nicht bewahren“ mit kurzen Meditationen zu Gedichten von Rainer Maria Rilke und Joseph Eichendorff bedachte.
„A good day“, ein guter Tag endet für Steindl-Rast weder im kitschigen Abendrot noch im hoffnungslosen Schwarz der Nacht: „Ich glaube an Nächte“, zitiert er Rilke. Zur Nacht gehörten Dunkelheit und Stille und „sehr tiefer Trost“ – denn in ihr begegnet der Mensch „dem großen Du“, jenem, das Christen „Gott“ nennen. Und immer wieder Eichendorff: „Was uns tröstet, das ist die Dankbarkeit.“
Angesprochen auf das Ende aller Dinge, auch auf sein eigenes, benutzt Steindl-Rast gerne das bekannte Bild einer tickenden Uhr. Diese mache allerdings für ihn nicht Tick-Tack, sondern „Jetzt-Jetzt-Jetzt-Jetzt“.
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Einheit in Vielfalt
Für die einen ist sie Hoffnungsträger in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, für die anderen ein Auslaufmodell: die Katholische Kirche in Europa. Eine kursorische Reise vom Wiener Stephansdom nach Polen, Irland, Frankreich und Großbritannien
Erschienen im LiMa 3 / 2012
Kirche ist immer und überall Weltkirche. Ob man in einer prall gefüllten polnischen Dorfkirche emphatisch Gottesdienst feiert oder in der britischen Diaspora als katholischer Streetworker seinen nüchternen Dienst verrichtet: stets kann man sich der Solidarität der christlichen Weltgemeinschaft – immerhin fast 1,2 Mrd. Menschen – sicher sein. Und auch in Europa ist man – entgegen den von vielen wahrgenommenen Trend der Marginalisierung der Kirche – als Katholik nicht allein: immerhin beläuft sich die Zahl der katholischen Christen trotz leicht rückläufiger Tendenz auf weiterhin fast 40 Prozent an der Gesamtbevölkerung.
Stets bedeutet dieses Eingebunden-Sein aber auch eine Bürde – die Verpflichtung nämlich, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und diese große Gemeinschaft mit all ihren Ecken, Kanten, aber auch mit ihrem Reichtum und Potenzial in den Blick zu nehmen. Dann wird spätestens klar: die Probleme der anderen – heißen sie Missbrauchsskandal, Austrittswelle oder Reformstau – sind immer auch ein stückweit die eigenen Probleme; und die Freuden der anderen – heißen sie Respiritualisierung, Reform-Aufbruch oder Laien-Engagement – sind auch die eigenen Freuden. Denn Kirche ist „Einheit in Vielfalt“, wie es eine häufig zitierte ökumenische Formel auf den Punkt bringt.
In besonderer Form greifbar wird diese Einheit in Österreich, genauer gesagt: in Wien. Die österreichische Hauptstadt wird gerne als „Sprungbrett in den Osten“ bezeichnet – und dies nicht nur für die Wirtschaft, die im nachkommunistischen Osteuropa Geschäfte wittert. Auch die Kirche hat hier eine besondere Weite und Brückenfunktion – sei es zur Orthodoxie oder auch zu den zahlreichen anderssprachigen Christen, die in Wien ansässig geworden sind.
Auf ihnen ruhen zugleich besondere Hoffnungen, wird doch auch die österreichische Kirche nicht von den Unruhen einer um sich greifenden Säkularisierung verschont. Durchschnittlich 40.000 Austritte pro Jahr, ein deutlich greifbarer kirchlicher Abbruch gerade bei der Jugend und eine sich in zermürbenden Reformdebatten aufreibende Kirche sorgen für eine latente Krisenstimmung. Das Bekanntwerden von rund 1.000 Missbrauchsfällen im kirchlichen Raum hat – trotz eines weitgehend gelungenen Krisenmanagements – die Lage weiter verschärft. Das „katholische Österreich“ droht zum Mythos zu werden.
Dabei bemüht sich die Kirche – allen voran der Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn – offensiv um Reformen. Strukturreformen allein sind ihm dabei jedoch zu wenig; es brauche einen missionarischen Aufbruch, ist Schönborn überzeugt. Entsprechend lud er im Laufe der vergangenen zwei Jahre bereits tausende Pfarrvertreter zu großen Versammlungen und Reformgesprächen in den Stephansdom. Durchkreuzt wurden diese Pläne unlängst von einem „Aufruf zum Ungehorsam“ einer Initiativgruppe von rund 300 Priestern, die – zumeist gestandene Geistliche – durch drastische Wortwahl und Forderungen auf Reformen in den Gemeinden und in der pastoralen Arbeit drängten.
Noch ist der Streit nicht geschlichtet, viele befürchten schon die nächste große Austrittswelle, dennoch hält Schönborn unbeirrt an seinem „Masterplan“ fest – dem Plan nämlich, Reformen sanft eingebettet in missionarische Initiativen durchzuführen. Und dabei gilt es für den Wiener Erzbischof auch von den Erfahrungen der Weltkirche bzw. der zahlreichen Christen aus anderen europäischen Ländern zu lernen. Jeder fünfte Wiener Katholik gehört einer solchen Gemeinde an – und sie alle leben und glauben in dieser Stadt.
Einen Eindruck von dieser bunten Lebendigkeit des europäischen Christentums kann man sich bei einem Bummel durch die alljährlich im Frühsommer stattfindende „Lange Nacht der Kirchen“ verschaffen. Die Idee einer ökumenischen Nacht der offenen Tür in allen christlichen Kirchen ist mittlerweile zu einem Exportschlager geworden. Der Heimathafen jedoch ist hier, in Wien – genauer gesagt: im Stephansdom. Zigtausende Menschen drängen sich in der „Langen Nacht“ in dieses größte Gotteshaus des Landes. Angelockt vor allem durch die eindrucksvolle künstlerische Lichtinstallation, die den Dom in dunkle und warme Farben taucht, unterbrochen einzig von Kunstnebel und einem zuckenden Laser, der vom Altar aus die Wände und Säulen umtanzt.
Von einer wohligen Welle an warmer spiritueller Einstimmung auf den Stephansplatz hinausgespült, beginnen wir unsere kleine Reise durch den europäischen Katholizismus zunächst in einem weiteren, vermeintlich unumstößlich katholischen Land: Polen. Rund 30.000 Polen leben heute in Wien, die Gottesdienstquote in der Kirche Zum Heiligen Kreuz nahe der Innenstadt ist hoch. Dennoch – auch in Polen ist der Katholizismus unter Zugzwang geraten.
Das weiß die polnische Journalistin Teresa Sotowska zu berichten. In einem Innenstadtcafe rührt sie lange in ihrer Melange. Die katholische Kirche – immerhin noch eine überwältigende Mehrheit von 95 Prozent der Bevölkerung – stehe in der Gefahr, „sich von der Gesellschaft abzukapseln“. Zwar seien die Gottesdienste in Polen nach wie vor voller als anderswo, aber die Bindungskraft des Glaubens schwinde gerade in moralischen Fragen zusehens. Katholische Riten begleiten, meist folkloristisch überhöht, durch die Lebenswenden, doch das Familienbild verändert sich, das Engagement in den Pfarren liegt am Boden – und Meinungsführerschaft bei gesellschaftlichen Themen hat die Kirche schon lange nicht mehr, so Sotowska.
Vor zwanzig Jahren war das freilich noch anders. Johannes Paul II. – auch heute noch dauerpräsent in Predigten und Gebeten – wurde zum Katalysator des Umsturzes. In der „Solidarnosc“ – der gewerkschaftlichen Keimzelle des friedlichen Umbruchs – wurden Katholiken zu führenden Querdenkern und Trägern des Protests. „Alles längst aus und vorbei“, winkt die Journalistin ab. Das politische Christentum ist in sich zusammengebrochen, Bischöfe und Klerus üben sich in spiritueller Selbstgettoisierung. „Dabei ist die Sehnsucht nach Halt und Orientierung in einem neuen Europa größer denn je“, sieht Sotowska ihre Kirche den Kredit weiter verspielen. „Ein Generationswechel muss her, und zwar schnell“.
Am anderen Ende Europas, in Großbritannien, kann man sich über mangelndes Engagement der katholischen Laien nicht beklagen. Angesichts eines verschwindenden Anteils von höchstens zehn Prozent an der anglikanisch dominierten Gesamtbevölkerung mag das überraschen. Für Michael Hölzl, katholischer Religionsphilosoph an der Uni Manchester, bedingen sich jedoch Diaspora-Mentalität und politisch gelebtes Christentum geradezu. Vor den Toren der mächtigen, neugotischen Mexikokirche gleich neben der Donau wartet er geduldig, bis das Glockengeläut endet, das in der „Langen Nacht“ die Mitglieder der „Vienna English Speaking Catholic Community“ zum Gebet ruft.
Wer in Großbritannien nach der katholischen Kirche sucht, den führt der Weg in die Extreme. „Entweder man findet sie in der pastoralen Basisarbeit in den Arbeiter- und Industrieregionen, dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Hoffnung gering ist – oder aber man findet sie in den katholischen Eliteschulen des Südens, wo eine verschwiegener katholischer Geldadel sich in geschlossenen Clubs trifft“, weiß Hölzl zu berichten. Dazwischen gibt es nicht viel. Auch wenn mittlerweile – nicht zuletzt dank des von englischen Medien als Erfolg gewerteten Papstbesuchs 2010 – die alten, historisch bedingten Vorbehalte gegenüber den Katholiken langsam abschmelzen. Dabei bringt die angespannte Diaspora-Situation weitere Vorteile mit sich: enorme Gestaltungsfreiheiten im pastoralen Bereich dank großzügiger privater Spenden, aber auch das Fehlen zermürbender Strukturreformdebatten wie etwa in Deutschland oder Österreich, so Hölzl, der selbst aus Wien stammt.
Die Situation sei heute komplexer als in anderen europäischen Ländern. Eine nie ganz zu Ende geführte Reformation, verbunden mit gegenreformatorischen Initiativen, hat eine heute in sich zutiefst gespaltene anglikanische „Church of England“ hervorgebracht. Unlängst schlüpfte ein konservativer Flügel der Anglikaner in Form der neu geschaffenen Rechtsform eines „Ordinariats“ wieder unter den Schutzmantel Roms. „Das anglikanische Experiment ist gescheitert“, brachte das der vor einem Jahr zum Katholizismus konvertierte anglikanische Bischof John Broadhurst gegenüber dem „Liborius-Magazin“ auf den Punkt.
Mit dem irischen Nachbarn verbindet Großbritannien im Übrigen religiös weniger als man ob der geografischen Nähe glaubt. Immerhin rund 90 Prozent bekennen sich hier zum Katholizismus, wenn auch hier Einschränkungen gemacht werden müssen wie in Polen. Denn längst ist auch Irland kein katholischer Musterschüler mehr. Der Missbrauchsskandal überrollte vor zwei Jahren das Land wie eine mächtige Flutwelle – und noch immer schlagen die verschiedenen Untersuchungsberichte Wellen, die Bischöfe zum Rücktritt zwingen und schließlich im März 2010 gar Papst Benedikt XVI. dazu veranlassten, sich in einem Brief persönlich an die irische Kirche zu wenden und auf Aufklärung zu drängen.
Doch nicht nur der Missbrauchsskandal sorgte dafür, dass die katholische Kirche in Irland heute unter Druck geraten ist. Historisch wurde sie – im Fahrwasser der Auseinandersetzungen mit England im 19. Jahrhundert – zum Hort des irischen Nationalismus, schrieb unlängst der Jesuit und Theologe Fergus O’Donoghue in den „Stimmen der Zeit“. Damit wurde sie zugleich zur Triebfeder eines politischen Konservativismus, der in einem modernen, offenen Europa heute nicht mehr zeitgemäß scheint.
Mit der anfänglichen irischen Erfolgsgeschichte in der Europäischen Union und einem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung sollte sich die Kluft zu einer bewahrenden und sich zunehmend schließenden Religiosität immer größer werden. So kann O’Donoghue auch für Irland feststellen: „Die Kirche als Institution ist nach wie vor ein geschätzter Serviceanbieter, aber sie wird eher für Übergangsriten in Anspruch genommen, als dass sie ein Schwerpunkt des öffentlichen Lebens oder eine ‚Wächterin der Seele’ eines Landes wäre, das über seine eigene Identität unsicher geworden ist.“ Schonungslos schreibt der Jesuit, Irland habe zurzeit „eine zerrüttete Kirche in einer depressiven Gesellschaft“. Hoffnungsvoll blickt er da auf den Eucharistischen Weltkongress, der in diesem Jahr in Dublin stattfinden wird und zu dem – so munkelt man – auch der Papst kommen könnte.
Zurück in die „Lange Nacht“. Von der englischsprachigen Gemeinde am Ufer der Donau führt der Weg zurück in die Innenstadt und in eine der schönsten Kirchen Wiens: die zwischen engen Gassen elegant eingefügte, hoch aufstrebende gotische Kirche Maria am Gestade. Hier hat die französischsprachige Gemeinde ihre Heimat gefunden. Kardinal Schönborn ist ein gern gesehener Gast in der Gemeinde, hat er doch lange in Frankreich gelebt, studiert und schließlich an der Katholischen Universität Fribourg unterrichtet.
Auf einer der hinteren Bänke wartet in dieser „Langen Nacht“ Franz Morawitz, Journalist und als solcher Experte für den gesamten französisch- und spanischsprachigen Teil der Weltkirche. Frankreich gilt gemeinhin als Hort der „laicité“, der völligen Trennung von Staat und Religion. Offizielle statistische Angaben zur religiösen Ausrichtung der Bewohner sind daher rar – jüngeren Angaben der Religionsgemeinschaften zufolge sind etwa drei Viertel der rund 60 Millionen Franzosen katholisch. Seit dem Jahr 1905 schreibt das sogenannte „Loi Combes“-Gesetz die Trennung von Staat und Religion fest – mit dem folgenreichen staatlichen Rückzug aus allen kirchlichen Finanzierungsfragen.
„Auch wenn die regelmäßige religiöse Praxis zurückgegangen ist, verfügt die katholische Kirche in Frankreich nach wie vor über starke Strukturen“, weiß Morawitz zu berichten. Geht man nach den nackten Fakten, so gibt es 98 Diözesen mit insgesamt 186 Bischöfen und über 16.000 Pfarren. Auch im Bildungsbereich ist die katholische Kirche – trotz fehlender staatlicher finanzieller Förderung – stark präsent. Die verordnete „laicite“ habe aber auch noch eine weitere „positive Seite“, so Morawitz: Von Missbrauchsfällen war in Frankreich erstaunlich wenig zu hören; auf der anderen Seite sorgt die „laicite“ dafür, den Klerikalismus gering zu halten und die soziale politische Flanke der Kirche und ihrer Vertreter zu stärken. Wortmeldungen von Seiten der katholischen Bischöfe zu sozialpolitischen Fragestellungen sind an der Tagesordnung – und sie werden weithin beachtet.
Sucht man nach dem Verbindenden zwischen all diesen Puzzleteilen, nach einem gemeinsamen Horizont, so ist dies wohl der – zweifellos in unterschiedlichen Geschwindigkeiten – fortschreitende und vieldeutige Prozess einer Säkularisierung, die mit dem Auf- und Abbrechen altgewohnter Lebens- und Glaubensmuster einhergeht. Alles steht zur Disposition, das gilt für das vermeintlich katholische Polen ebenso wie für die Diaspora-gewöhnten englischen Katholiken. Dabei ist es gerade Europa, dieses Gebilde aus übersteigerter Bürokratie und hochspekulativer Hoffnungen auf sozialen Ausgleich, Frieden, Gemeinschaft und Zusammenhalt, das den Christen nicht nur freie Religionsausübung garantiert, sondern den Austausch mit den Religionen sucht.
Denn auch das war eine Frucht des lange umstrittenen Lissabon-Vertrags: die Ausformulierung einer so genannten „Dialogklausel“ (Artikel 17), die die Verpflichtung der Europäischen Union zu einem wertschätzenden Dialog mit den anerkannten Religionen enthält. Auf europäischer Ebene sind die Kirchen so in den letzten Jahren zu Dialogpartnern auf Augenhöhe geworden. Sie werden im Parlament und in Ausschüssen angehört und informiert. Gegenüber diesen großen Aufgaben blieben die aktuellen innerkirchlichen Debatten über Struktur- und Reformfragen fast zweitrangig – so formuliert es etwa der für die Ausarbeitung der Dialogformel federführend zuständige österreichische Jurist und Vertreter der österreichischen Bischöfe in Brüssel, Franz Eckert. „Ich habe den Eindruck, es fehlt noch an der Verantwortung der Christen für die Europäische Union in dieser schwierigen Zeit.“
Die letzte Station in dieser „Langen Nacht“ ist eine Fahrt auf den Nordturm des Stephansdoms. Der Blick gleitet über die hell erleuchtete, glitzernde Stadt. Kirchen prägen die Silhouette. Dazwischen lassen sich Menschenmengen durch die Straßen treiben. Die vermeintlich unüberwindbaren innerkirchlichen Probleme und Streitigkeiten – sie verschwinden freilich nicht bei einer geweiteten Perspektive. Aber sie werden doch kleiner. Und vielleicht geben sie dann irgendwann gar den Blick auf das Wesentliche frei.
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„Das anglikanische Experiment ist gescheitert“
Am 1. Januar 2011 konvertierte der anglikanische Bischof John Broadhurst zum Katholizismus. LiMa besuchte ihn zu Hause in London
Erschienen im LiMa 3 / 2011
Einfamilienhäuser im viktorianischen Stil, gehobene Limousinen in den Einfahrten, akkurat gefegte Gehsteige. London-Islington gilt als eine der besten Adressen Londons. Umso trauriger stimmt es John Broadhurst und seine Frau Judy, dass sie in den nächsten Monaten ihr stattliches, der anglikanischen Kirche gehörendes Haus räumen müssen. Denn John Broadhurst hat einen aufsehenerregenden Schritt gewagt: Am 1. Januar ist er in der Londoner Westminster Kathedrale zur Katholischen Kirche konvertiert, am 15. Januar folgt seine Weihe zum katholischen Priester.
Das wäre noch nichts Außergewöhnliches – wäre der 68-Jährige nicht Bischof und wäre sein
Übertritt nicht der medienwirksam inszenierte vorläufige Höhepunkt eines lange schwelenden Konflikts innerhalb der Church of England. Mit ihm konvertierten zwei weitere Bischöfe, die vormals dem „katholischen Flügel“ in der stark gespaltenen anglikanischen Kirche angehörten, und tausende Gläubige und Priester könnten folgen, ist Broadhurst sicher.
Langsam stopft er seine Pfeife. Ein abgewetzter Schreibtisch, Stöße von Papieren und die abgegriffene Bibliothek machen schnell deutlich: an Ruhestand ist bei Broadhurst nicht zu denken. In Kürze – Mitte Januar – steht wohl der Höhepunkt seiner bisherigen Laufbahn an: Dann soll das weltweit erste „Personalordinariat“ durch die vatikanische Glaubenskongregation errichtet werden. Dieses erlaubt es übertrittswilligen Anglikanern, in einem rechtlichen Sonderstatus Katholik zu werden und zugleich die eigenen Traditionen – unter anderem das eheliche Zusammenleben als Priester – beizubehalten.
Seit einigen Wochen arbeitet Broadhurst unter Hochdruck an der Errichtung des Ordinariats. Ermöglicht wurde das durch die päpstliche Konstitution „Anglicanorum coetibus“ vom November
2009. „Ein Angebot des Papstes, das wir nicht ausschlagen können", so Broadhurst. „Wir“ meint dabei jene anglikanischen Laien und Priester, die sich in der Bewegung „Foreward in faith“
zusammengeschlossen haben – stets in der Hoffnung auf die Kircheneinheit mit Rom. Doch was lässt Broadhurst an seiner Kirche verzweifeln, sodass er die eigene geistig-geistliche Heimat aufgibt?
Ursprünglich als Katholik getauft, fand Broadhurst rasch in seinem anglikanischen Umfeld eine spirituelle Heimat, er besuchte das elitäre Londoner King’s College, 1967 erfolgte die Priesterweihe.
1972 wurde er als jüngstes Mitglied in die Generalsynode der Church of England gewählt – eine Position, die er über 20 Jahre lang innehaben sollte. 1996 folgte schließlich die
Weihe zum Bischof von Fulham.
Eine glatte anglikanische Biografie. Erst der zweite, theologische Blick offenbart die Brechungen. „Es gibt zwei Ereignisse, die mich in besonderer Weise geprägt und auf die Spur des Katholizismus gebracht haben: das Zweite Vatikanische Konzil und das Jahr 1994“, erläutert Broadhurst. Das Konzil habe ihm „die Augen geöffnet“, indem es „die perfekte Synthese zwischen einem protestantisch geprägten personalen Glaubensprinzip und der Vorstellung von Kirche als ‚Communio‘ (einer Gemeinschaft der Glaubenden) geboten hat“, so Broadhurst. „Und plötzlich habe ich gesehen: Alles, was ich gesucht habe, ist in der katholischen Kirche, verwirklicht.
Einschneidender stellte sich laut Broadhurst die ökumenische Kehrtwende der anglikanischen
Kirche im Jahr 1994 dar, die durch die Zulassung von Frauen zur Priesterweihe den ultimativen ökumenischen Super-GAU heraufbeschworen habe. Die Signale aus Rom waren eindeutig: Man sei damit im
ökumenischen Prozess „at the end of the rope“ – am Ende der Fahnenstange angekommen. Der Kampf war verloren, der Papst machte ein Angebot – „und ich fragte mich: Ist es das, was wir wollten? –
Ja, das ist es!“
Persönlich scheint Broadhurst also angekommen zu sein. Er gehört – endlich – jener Kirche an, der er sich von Beginn an zugehörig fühlte. Dabei kommen seine Kritiker nicht nur aus dem Inneren der Church of England – besorgt äußerten sich zuletzt Vertreter der Ökumene gerade auch in den protestantischen Kirchen, sehen sie doch in der „Causa Anglicanorum“ einen bedenklichen Präzedenzfall, der ein altes, überwunden geglaubtes Bild von Kircheneinheit wiederbeleben könnte: Ökumene als Rückkehr. Und es ist gerade Broadhurst, der diese Bedenken nährt, wenn er ohne Umschweife poltert, dass die ökumenisch bewährte Rede von „Einheit in Vielfalt“ nichts anderes als „rubbish“ (Unsinn) sei. Es missachte die Tatsache, dass Ökumene „ein Haus“ bedeute, außerdem gebe es „keine Vision von Einheit in der Bibel, die mit kirchlichem Pluralismus vereinbar ist“.
Benedikt XVI. teile diese Vision von Ökumene, ist Broadhurst überzeugt. Dabei merkt er nicht ohne Stolz an, dass die päpstliche Offenheit dem anglikanischen Ansuchen gegenüber auch einem Vieraugengespräch vor 14 Jahren geschuldet sei. Der Papst habe stets ein „offenes Ohr“ für die Anglikaner – auch wenn ihm Ratzinger damals eine „protestantische Antwort auf eine katholische Frage“ gegeben habe. Ratzinger habe zum personalen Vollzug des Übertritts einzelner Anglikaner ermuntert. Da Glaube jedoch immer auf Gemeinschaft ziele, habe er mit seiner eigenen Konversion so lange gewartet, bis der Papst nun eine „katholische“ Antwort gegeben habe, die ausdrücklich auf die Konversion ganzer Gruppen abziele.
Langsam erhebt sich Broadhurst, die Pfeife ist erkaltet. Viel Organisatorisches gilt es zu erledigen. Strukturen müssen quasi aus dem Nichts geschaffen werden, um die erwarteten Konvertiten aufzufangen. Dabei geht es um handfeste Probleme: „Wer soll etwa die Gehälter der Priester zahlen? Stellen Sie sich einen anglikanischen Priester, verheiratet, mit drei Kindern vor: Der wird sich einen Übertritt gut überlegen, wenn er damit sein Einkommen, seine Pensionsansprüche und seine Wohnung verliert."
Enttäuschung über seine ehemalige Kirche auf ganzer Linie. Entsprechend malt er ein geradezu
apokalyptisches Bild: „Das anglikanische Experiment ist gescheitert – die Gemeinschaft zerfällt
zusehends.“ Die Gemeinschaft sei zerstrittener denn je, die Debatten um Weihe von Frauen sowie die Weihe von bekennend homosexuellen Priestern habe die Kirche in eine Krise geführt, von der sie
sich nicht wieder erholen werde.
Ein versöhnlicher Abschied sieht anders aus. Dabei laufen dem Bischof im Eifer des Gefechts ein wenig die Relationen aus dem Ruder: So zählt die anglikanische Weltgemeinschaft derzeit rund 75 Millionen Gläubige – „Forward in faith“ und damit wohl der „harte Kern“ der Übertrittswilligen kommt gerade einmal auf rund 1.000 Priester und 8.000 Laien. Die angekündigte „Implosion“ der Kirche dürfte einstweilen noch auf sich warten lassen.
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Vom Ende her
Andreas Salcher, einer der erfolgreichsten Sachbuchautoren Österreichs, empfiehlt in seinem jüngsten Werk, das Leben aus der Perspektive der „letzten Stunde“ zu betrachten. Dabei kommt er ohne Religion aus – aber nicht ohne Spiritualität
Erschienen im LiMa-online
Die größte Anstrengung des Menschen besteht - einem Wort Elias Canettis zu Folge - darin, „sich nicht an den Tod zu gewöhnen“. Er ist unausweichlich, dennoch will niemand wahrhaben, dass er sterben wird, dass es ihn selbst vielleicht schon bald trifft. Alles beginnt mit einem ersten Atemzug – aber es endet auch mit einem solchen. „Wir leben, als würden wir immer leben. Wir achten nicht darauf, wie viel Zeit bereits vorüber ist, wir verschwenden sie, als wäre sie unerschöpflich, dabei könnte jeder Tag unser letzter sein.“
Kein Buch über den Tod, sondern über das Leben
Das mag banal klingen, tatsächlich hat der Sachbuchautor Andreas Salcher mit seinem Buch „Meine letzte Stunde“, das eben diese Spannung der menschlichen Existenz als Quelle des Lebenselexiers erschließt, wohl einen Nerv getroffen – seit Wochen ist sein Buch in den österreichischen Bestsellerlisten weit oben geführt. Wenn man das Leben aus der Perspektive der „letzten Stunde“ betrachtet, so die Botschaft, gewinnt es an Tiefe, an Klarheit, an Intensität. Es sei daher „kein Buch über Sterben und Tod, sondern über das Leben“.
Wien, erster Bezirk, an einem grauen Novembertag. In Nachbarschaft zur griechisch-orthodoxen Kathedrale und nur wenige Schritte vom Stephansdom und den touristischen Attraktionen Wiens entfernt lebt und arbeitet Salcher. Mit wachen Augen mustert er sein Gegenüber, der alte polierte Parkettboden knirscht mit jedem Schritt, im Hintergrund der gediegenen Altbauwohnung eine mächtige Bücherwand. Er gilt als Rastloser, der sich in vielen Disziplinen zu hause fühlt, sei es in der Politik, wo er 12 Jahre als Abgeordneter der Österreichischen Volkspartei im Wiener Landtag saß, sei es als Begründer der „Sir Karl Popper Schule“ in Wien, die sich der Begabtenförderung verschrieben hat, oder als Initiator der „Waldzell Meetings“ mit weltweit führenden Denkern in Stift Melk.
Salcher erlebte seine "letzte Stunde" bei einem Flugzeugabsturz
Über Gott und die Welt zu sprechen, bedeutet für Salcher, über eine Vielzahl an Schicksalsschlägen zu sprechen – persönliche, aber auch bei zahlreichen Freunden. Wie etwa bei Poldi, einem engen Freund, den der Krebs schon in jungen Jahren mitten aus dem Leben gerissen hat. Aber auch Gespräche mit dem mittlerweile an Krebs verstorbenen Regisseur Christoph Schlingensief oder Begegnungen in Krebsstationen und Hospizen haben ihn sensibilisiert für die Zerbrechlichkeit des Lebens – und auf der anderen Seite für den großen Wert, den das Leben bedeutet. Schließlich hat Salcher auch die Begegnung mit seiner persönlichen „letzten Stunde“ in Form eines überlebten Flugzeugabsturzes und einer irrtümlich vermuteten Krankheit sehr geprägt – verändert aber habe ihn die Arbeit an dem Buch.
Er lebe seither bewusster, achtsamer, und, ja, auch dankbarer, sagt Salcher und lässt den Blick aus den großen Fenstern seiner Wohnung über die Skyline von Wien gleiten. Wem genau er dankbar ist, lässt er offen. Überhaupt das Thema Religion. Wer sich durch die 300 Seiten des Buches arbeitet, stößt immer wieder auf spirituelle Versatzstücke auf Momente des Religiösen, nie jedoch auf biblische Elemente oder gar eindeutig katholisch markierte Überzeugungen. Andreas Salcher bleibt auch auf diesem Gebiet ein Grenzgänger. „Ich selbst sehe mich als einen Suchenden, einen Hoffenden, der weder an die Dogmen der Religionen noch an das endgültige Ende der Atheisten glaubt.“ Spiritualität – ja, fest gefügte Lehrgebäude – nein. Eine Kerze im Stephansdom zu entzünden, auf Reisen Kirchen zu besuchen, das sei selbstverständlich, aber die liturgische Strenge, das dogmatische Lehrgebäude, dies sei nie seine Welt gewesen, so Salcher.
Dabei waren Priester und Mönche seine Lehrer
Dabei zählt er nicht wenige Priester und Mönche zu seinen Freunden und sogar Lehrern, wie etwa den in Österreich aufgewachsenen und nun in den USA lebenden Benediktinermönch David Steindl-Rast. Von ihm habe er etwa gelernt, dass der Blick auf die „letzte Stunde“ nicht in erster Linie der Überwindung des Todes diene, sondern einem Perspektivenwechsel, der das eigene Leben wertvoller erscheinen lasse. Das Eingedenken der Sterblichkeit als Quelle des Lebenshungers – nichts anderes meine auch der Grundsatz benediktinischer Spiritualität, das „Memento mori“ (Gedenke deiner Sterblichkeit). Ein Grundsatz im Übrigen, der sich in allen großen Religionen in ähnlicher Form finde. Auch dies habe er von Steindl-Rast gelernt: die Religionen auf ihren spirituellen Reichtum hin quer zu lesen.
Das Wort Gott nimmt er jedoch ungern in den Mund. Lieber spricht er davon, dass er durch zahlreiche Reisen und Begegnungen – nicht zuletzt mit dem Dalai Lama – zu der Überzeugung gekommen ist, „dass es etwas ‚danach’ gibt“. Glauben will er das nicht nennen, eher eine spirituelle Geborgenheit, die durchlässig ist für alle möglichen konkreten religiösen Ausprägungen. Dazu passt auch der Satz, dass es für ihn „keinen Sinn macht, die Welt in gläubige und ungläubige Menschen einzuteilen“, wichtiger sei die Einteilung in „anständige und unanständige Menschen“ – diese jedoch gebe es in allen Kulturen und Religionen.
Aber Salcher begnügt sich nicht mit dieser interreligiös offenen Perspektive. So hat er auch bewusst das Opus dei an der Universität „Santa Croce“ in Rom aufgesucht, um die „andere Seite“ zu hören – jene Menschen, die etwa fest von der Existenz der Hölle ausgehen, die ein wohl gefügtes Lehrgebäude kennen und in dessen Matrix sie Erlösung, Freiheit und Gnade verorten können. Augenscheinlich fühlt er sich jedoch bei den Weitherzigen wohler – aufrichtiger Glaube, auch ein strenger, könne zwar helfen, da er die Hoffnung auf ein Jenseits, auf Auferstehung gibt, „wenn man aber glaubt, damit die Verantwortung für sein Leben delegieren zu können, nutzt er in der letzten Stunde nichts“ – denn diese teilen Gläubige wie Ungläubige in gleichem Maße.
Sein Buch soll mehr als ein Appell sein
Als bloßen Appell „Carpe diem“ zur alleinigen Steigerung der Lebenslust möchte er sein Buch nicht verstanden wissen, da dies für ihn zu kurz greife. Denn natürlich weiß auch Salcher um den Zwang in alltäglichen Strukturen, um die strenge Rhythmik durchschnittlicher Tagesabläufe, ist er doch selbst ein erfolgreicher Unternehmer, der neben Büchern und wissenschaftlichen Artikeln auch als Unternehmensberater erfolgreich ist und dem daher sein Terminkalender einem Evangelium gleich kommt. „Es braucht kein ‚Damaskus-Erlebnis’, um das Leben zu ändern, es geht mir vielmehr um dieses eine Prozent an Freiheit, das wir im Tag mehr schaffen können“. Rituale und Strukturen könnten dabei sogar behilflich sein, eine solche „konkrete Spiritualität“ zu entwickeln, die sich vor allem in einem sensibleren, achtsameren Umgang mit anderen Menschen – aber auch mit sich selbst – zeige. Alles steuert in dem Buch auf das letzte Kapitel zu, den „Besuch deiner letzten Stunde“.
Was ist das Geheimnis der "letzten Stunde"?
Plötzlich wechselt Salcher ins Du – im Gespräch wie auch im Buch –, wird persönlicher, um zu verdeutlichen, dass wir einen sensiblen Bereich betreten; einen Bereich, in dem seelische Wunden auftauchen können, Selbstzweifel, Ängste. „Ich kann niemandem die ‚letzte Stunde’ zeigen, ich kann nur die Tür ein stückweit öffnen.“ Was man dann zu sehen bekomme? Salcher lehnt sich zurück. „Das Geheimnis der ‚letzten Stunde’ ist die Begegnung mit sich selbst“, sagt er kryptisch. Im Klartext: man bekommt alle Unannehmlichkeiten, jedes vergessene Danke, jede verletzte Eitelkeit, jedes Wegrennen vor sich selbst aufgetischt, ungeschminkt und ohne Geschmacksverstärker. Wer diese Konfrontation aushält, wer am Ende zu dem, was er da zu sehen bekommt, tatsächlich „Ja“ sagen kann, wer also vor dem Richterstuhl des eigenen Gewissens besteht, der hat es nach Salcher geschafft.
Gedankenreichtum, Dankbarkeit, Hinschauen, Achtsamkeit, Zuhören – es sind letztlich diese Tugenden, die nach Aristoteles Momente des glückenden Lebens ausmachen. Salcher will sich diese nicht von einem Gott aufzwänge lassen, der Richterstuhl, vor den er dereinst treten werde, wird vermutlich „leer sein“, er selbst werde ihn erklimmen müssen, formuliert er es. Bis es allerdings so weit ist, gilt es zu trainieren, den Blick in den Spiegel der „letzten Stunde“ zu werfen.
Die Stufen auf den Richterstuhl des eigenen Lebens sind steil – und vielleicht auch von der Einsicht begleitet, dass man ihn ohne Hilfe kaum wird erklimmen können. Das Christentum nimmt einem diese Aufgabe freilich nicht ab, da liegt der Christ mit Salcher auf einer Linie. Aber es kennt die zaghafte Hoffnung, dass man in der „letzten Stunde“ und damit an der Schwelle des Lebens nicht nur sich selbst begegnet, sondern dem ganz Anderen, demjenigen, das in den religiösen Traditionen gemeinhin mit „Gott“ bezeichnet wird.