Menschen in Revolte
erschienen in CIG 31 (2011)
Seit rund einem halben Jahr steht die politische Welt im arabischen Raum Kopf - und zugleich die Ideenwelt in unseren Köpfen. Regime erzittern unter den Revolten ihrer demokratisch entfesselten Völker. So klar dabei der Ruf nach Freiheit, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit ist, so groß ist plötzlich die Verwirrung im bis dahin geordneten Geisteshorizont des Westens. Galten nicht die arabischen und nordafrikanischen Länder aufgrund ihrer Gemengelage von Islam und Tradition als verlorene Länder für die Demokratie?
Nun haben vor den Augen der Weltöffentlichkeit das tunesische und das ägyptische Volk sich von jahrzehntelangen verkrusteten Autokratien befreit. Gesellschaften wagen einen Aufbruch, den zuvor kaum jemand für möglich gehalten hatte. Scheinbar fest verankerte, weil vom Westen aus wirtschaftlichen Erwägungen gestützte Regime fielen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Sie konnten nicht mehr erfüllen, was die junge Generation über Facebook, Twitter und durch Demonstrationen einforderte: Freiheit, sozialen Ausgleich, politische Mitbestimmung und Teilhabe an der Macht. Die demokratische Revolte ist zuvorderst eine demografische Revolte, getragen von den Jüngeren und Gebildeten.
Kein Umbruch ohne Philosophie
Was indes schmerzhaft fehlt, ist die politisch-philosophische Begleitmusik. Denn derart gewaltige gesellschaftliche Um- und Aufbrüche werden immer von einer Ideengeschichte, von Hoffnungen entweder vorbereitet oder nachträglich eingeholt. So füllt etwa die Literatur über die osteuropäischen Revolten von 1989 mittlerweile Bibliotheken. Der Zusammenbruch des vermeintlich in sich geschlossenen politischen Systems der mit der Sowjetunion verbündeten Staaten unter dem Eindruck hunderttausender friedlicher Demonstranten hat die politische Philosophie im Kielwasser der Revolten beflügelt. Trifft Ähnliches auch auf die arabischen Geschehnisse zu?
Noch ist es zu früh, diese Revolten abschließend zu bewerten. Zeit jedoch, eine Zwischenbilanz zu ziehen, die sich weniger an den atem- und rastlosen tagespolitischen Kommentaren orientiert als vielmehr an zwei Impulsgebern der politischen Philosophie der Neuzeit: an Albert Camus und Hannah Arendt und ihren Klassikern „Der Mensch in der Revolte" und „Über die Revolution".
Camus' Ausgangspunkt war die Frage nach dem Wesen des Menschen in der Revolte. Diese Frage ist in die Schilderung einer Welt voller Abgründe und Absurditäten eingebettet, in der ein alle Werte einebnender Nihilismus das Handeln bestimmt und eine Politik vorherrscht, die sich aufs pure Herrschen und Machen beschränkt, Politpragmatismus ohne Moral. Der historische Hintergrund für Camus waren Entstellungen und Fehlentwicklungen innerhalb der „Internationalen", also gerade jener Bewegung, auf die viele Intellektuelle ihre Hoffnungen gesetzt hatten. Dies wurde für Camus zum Boden, auf dem die Revolte wächst. Gewalt, Nihilismus und totalitäre Machtverhältnisse: Herrscht dies nicht derzeit auch in Syrien, Bahrein, Jemen? Camus stellt die berühmte Frage: „Was ist der Mensch in der Revolte?" Seine Antwort lautet, reduziert, aber doch umfassend: „ein Mensch, der Nein sagt."
Gemeint ist das Nein zum Herrschenden. Durch dieses Nein geschieht etwas Wesentliches: „Bewusstwerdung". Camus erklärt dies als „plötzlich durchbrechende Erkenntnis, dass im Menschen etwas ist, womit der Mensch sich identifizieren kann, und sei es nur eine Zeit lang". Dies ist auch der entscheidende Punkt, der über Wohl oder Übel, über Gelingen oder Scheitern einer Revolte befindet: ob es gelingt, dass der Mensch sich als Teil eines Ganzen im positiven Sinne empfindet - „und sei es nur eine Zeit lang". Tatsächlich ringen die brüchigen Übergangsräte und die revoltierenden Jugendlichen in arabischen Ländern vor allem um dies: die Konservierung des Gefühls, Teil eines Ganzen, einer Bewegung zu sein, die dem Kalkül und Taktieren der Machtpolitik widersteht.
Revolte oder Revolution?
Die Revolte trägt nach Camus immer auch philosophischen Sprengstoff mit sich herum, insofern sie der Weigerung des Menschen, „als Ding behandelt und auf die bloße Geschichte zurückgeführt zu werden", Ausdruck gibt. In der Revolte entzieht sich der Mensch einer „Welt der Macht" und setzt der Geschichte selbst eine Grenze - eine Grenze, an der das „Versprechen eines Wertes" aufsteigt. Die Revolution dagegen unterscheidet sich von der Revolte dadurch, dass sie die Idee eines solchen Wertes bekämpft. Damit besiegelt sie aber zugleich „ihre eigentliche Niederlage". Anders als die Revolte ist die Revolution „ein Versuch, ein neues Sein zu erobern, durch das Tun, außerhalb jedes Moralgesetzes".
Diese pure Geschichtlichkeit bar jeder Moral, die keine übergreifende und übersteigende Idee duldet, führt für Camus blindlings in den Terror. Denn der Mensch zählt in diesem Revolutionsräderwerk nichts. „Genau an diesem Punkt ist die Grenze überschritten, die Revolte zuerst verraten und dann logischerweise erstickt." Die Revolte fordert Einheit, die Revolution Totalität. „Die eine ist schöpferisch, die andere nihilistisch." Anders gesagt: „Statt zu töten und zu sterben, um das Sein hervorzubringen, das wir nicht sind, müssen wir leben und leben lassen, um zu schaffen, was wir sind."
Die Revoltierenden handeln dabei niemals egoistisch. Ihr Tun bleibt ein solidarisches Tun im Namen eines „noch ungeklärten Wertes". Es gibt keine Zielbestimmung, nur das Nein und die geradezu metaphysisch aufgeladene Überzeugung, dass die Revolte kein bloßer Akt des Abschüttelns einer Herrschaftsform ist. Für den Philosophen legt sie nämlich den metaphysischen Kern des Menschen frei - denn für einen Moment, so Camus wörtlich, „offenbart" sich in ihr, „was im Menschen allezeit zu verteidigen ist": das Humanum. Das zutiefst Menschliche liegt bei Camus nicht in der Ruhe oder in der Mitte; im Extremfall liegt es in der Revolte.
Zur Revolte gehört aber stets auch ein gewisses Maß an Auflehnung gegen religiöse Systeme und ihre Autoritäten, also ein gewisser Antiklerikalismus und Laizismus. Im Heiligen sieht Camus Bremsklötze des erwachenden Bewusstseins vom Politischen. Die Revolte ist „die Tat des unterrichteten Menschen, der das Bewusstsein seiner Rechte besitzt". Der Mythos und das Heilige hingegen würden die Revolte ersticken. Denn wo Gott lenkt, lasse die Geschichte keinen Platz für das Politische, für die erwachende Demokratie. Daher stehe der Mensch in der Revolte „vor oder nach dem Heiligen" und somit „hingegeben der Forderung nach einer menschlichen Ordnung, in der alle Antworten menschlich, das heißt vernunftgemäß formuliert sind".
Somit lautet für Camus die zentrale Frage der Revolte: „Kann man fern des Heiligen und seiner absoluten Werte eine Verhaltensregel finden?" Seine Antwort: „Die Grundlage dieses Wertes ist die Revolte selbst" - denn in der Revolte zeichnet sich die Solidarität der Menschen untereinander in völliger Klarheit ab. Politisch gewendet heißt das: Die Revolte ist die Bedingung der Möglichkeit des Politischen überhaupt. In ihrem Kern bewahrt sie zweierlei: das Wissen um die stete Neuanfänglichkeit sowie das Wissen um ein notwendiges Maß an Solidarität. So kann Camus schreiben, die Revolte sei „die erste Selbstverständlichkeit", und feststellen: „Ich empöre mich, also sind wir."
Bewahrt die Begeisterung
Das Verhältnis von hitzigem Revolutionsgeschrei und den Mühen der politischen Tiefebene danach hat wohl kaum jemand so intensiv bedacht wie Hannah Arendt. Das Wesensmerkmal der Revolution besteht für sie darin, dass diese zuallererst „die Sache der Menschheit" vertritt - die „Idee" der Menschheit, die Idee der Freiheit. Im Gegensatz zu Camus, der eine klare begriffliche Abgrenzung der Revolte von der Revolution vornimmt, findet sich diese Klarheit bei Arendt nicht. So kann der Eindruck entstehen, sie verfolge mit ihrem Revolutionsbegriff als - wie sie es sagt - Prozess, „der der alten Ordnung ein endgültiges Ende setzt und die Geburt einer neuen Welt herbeiführt", eine geradezu nihilistische Position ohne moralische Bindung. Doch es geht ihr nicht in erster Linie um die Revolution an sich, um ihre Gewaltexzesse, sondern um das „Danach", also um die Umwandlung revolutionärer Energie in eine institutionelle - bindende - Ordnung.
Es sind insbesondere drei Lehren, die man aus Hannah Arendts Werk für heute ziehen kann. Erstens den Hinweis auf das unwiederbringliche Ende einer rückwärtsgewandten geschichtsphilosophischen Konstruktion. Zweitens die Einsicht, dass jeder Versuch, politische Herrschaft metaphysisch oder gar religiös zu begründen, scheitern muss. Drittens die Notwendigkeit, die durch den Sturz eines autoritären Regimes entstandene „Leerstelle der Macht", wie der französische Philosoph Claude Lefort das nennt, stets neu als Ursprung des Politischen, als Triebfeder einer Politik im fortschreitenden Prozess und als Grundbedingung funktionierender Demokratien überhaupt zu begreifen.
Die Revolutionen der Neuzeit gebären aus sich heraus eine innerweltliche Rechtfertigung von Politik. Das radikal Neue, das die Französische Revolution etwa mit der Entstehung der amerikanischen Nation teilt, ist diese radikale innerweltliche Fundierung. Der Hobbes'sche Leviathan als Sinnbild der politischen Allianz von Krone und Altar wurde enthauptet - nicht nur theoretisch, sondern wie im Falle von Charles I. in England und Ludwig?XVI. in Frankreich ganz real. Oder wie es der Arendt-Experte und Politikwissenschaftler Helmut Dubiel ausdrückt: „In den modernen demokratischen Republiken wird politische Macht zu einem prinzipiell herrenlosen Gut, das man sich nur auf Zeit und nach festgelegten prozeduralen Kriterien aneignen darf."
Kein Zurück ins Gottesgnadentum
Doch noch etwas fasziniert die politische Philosophin: Wie lässt sich diese Leerstelle der Macht aushalten, ohne in alte sakrale Rechtfertigungsmuster zurückzufallen, wie dies in Frankreich, aber auch in den USA zu beobachten war? Das Absolute - und sei es das totalitäre, ins gewaltvolle Grauen gewandte Absolute - blieb ja stets Gegenstand des Politischen, gleichsam als „Abziehbild göttlicher Machtvollkommenheit". Selbst für die 89er Revolten in Osteuropa lässt sich diese Suche nach geschlossenen Identitäten aufzeigen. Der Ruf „Wir sind das Volk" wandelte sich rasch zu „Wir sind ein Volk", stellt Dubiel fest. Das Volk wurde als einheitlicher homogener Körper dargestellt, der es jedoch weder damals war noch heute ist. „In allen Gesellschaften Mittelosteuropas wurde der aufgebrochene Raum totalitärer Macht gleich wieder abgeschlossen durch die einheitsstiftende Symbolkraft der ‚Nation'."
Nationalismus, Vernunftkult, Ideologien, gerade auch religiös verbrämte Politik - dies sind die Altlasten des Gottesgnadentums, die auch in den vom Pulverdampf der Revolte überzogenen jungen Demokratien das Politische gefährden. Ob diese Gesellschaften eine der Moderne angemessene, säkulare Autoritätsquelle finden und bewahren können, wird zur Nagelprobe für das Gelingen der gesamten Revolte im arabischen Raum. Denn erst dort, wo die Teilung in Herrschende und Beherrschte in eine Vielzahl politischer Subjekte aufgelöst wird, kann eine neue, „horizontale" Politik entstehen. Entsprechend lautet eine berühmte Passage in Hannah Arendts Werk „Über die Revolution": „Im Unterschied zur Stärke, einer Mitgift der Natur, die in verschiedenem Ausmaß jedem Einzelnen in Besitz gegeben ist, entsteht Macht nur, wo viele sich zusammentun, um zu handeln; sie ist nie ein fester Besitz, sondern verschwindet, sobald die Vielen, aus gleich welchen Gründen, wieder auseinandergehen oder einander im Stich lassen. Macht wird stabilisiert und in der Existenz gehalten durch die mannigfaltigen Formen des Sich-einander-Bindens, durch die Versprechen und Bünde und Verfassungen. Wo immer es Menschen gelingt, die Macht, die sich zwischen ihnen im Verlauf einer bestimmten Unternehmung gebildet hat, intakt zu halten, sind sie bereits im Prozess des Gründens begriffen; die Verfassungen, Gesetze und Institutionen, die sie dann errichten, sind genauso lange lebensfähig, als die einmal erzeugte Macht lebendigen Handelns in ihnen überdauert."
Warnung vor Gleichmut
Wie aber kann man den Gründungsmythos, den Ur-Sprung bewahren? Wie lässt sich verhindern, dass das Feuer der Begeisterung erlischt oder gar in einen totalitaristischen Flächenbrand ausartet? Auch diese Frage wird den Revoltierenden im arabischen Raum nicht erspart bleiben. Der Aufruf Hannah Arendts ist klar: Erinnert, haltet das Bewusstsein des Urknalls der Revolte, des Gefühls einer tatsächlich gespürten Einheit als Volk, als Gesellschaft, als mündige politische Bürger wach! Lasst die Glut der Sehnsucht nach Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechten nicht erlöschen. Hütet euch vor dem Erlahmen des politischen Streits durch die Institutionenmechanik.
Die Revolten haben der bequemen Haltung des Westens die Maske vom Gesicht gerissen und die Fehleinschätzung offengelegt: Denn längst haben hinter der Mauer der Autokratie die Gesellschaften einen zarten Emanzipations- und Modernisierungskurs im Denken eingeschlagen. Längst haben sie durch technische Innovationen und Vernetzungen Zugang zu Bildern, Metaphern und Ideen von Demokratie und Gerechtigkeit erhalten, der ihnen verwehrt werden sollte. Nun haben sie Nein gesagt und die Konsequenzen gezogen.
Das demokratiemüde Europa
Auch Arabiens Bürger sind Weltbürger geworden. Die Gesellschaften sind jung, überwiegend gut ausgebildet, die Länder als Wirtschaftsnationen - wenn auch nur zugunsten einer kleinen Elite - voll in den globalen Güter- und Finanzverkehr eingebunden. Es war die Ungleichzeitigkeit von vormoderner Verweigerung grundlegender Freiheits- und Teilhaberechte und der marktwirtschaftlichen Ausrichtung, die in diesen Ländern sozialen Sprengstoff schuf. Gerade dies - so lässt sich in Anlehnung an Jürgen Habermas festhalten - macht die aktuellen Umbrüche zu „nachholenden Revolten". Es geht nicht um die Geburtswehen des ganz Neuen, einer anderen Lebensform, wie sie etwa die Französische Revolution für Habermas darstellt, auch nicht um ein politisches Experiment wie den Sozialismus. Es geht um den Anschluss an die Standards einer Weltzivilisation.
Die arabischen Revolten sind auch für Europa höchst bedeutsam. Sie beleben auf neue Weise die politische Vorstellungskraft eines demokratiemüden Kontinents. Politische Bewegungslosigkeit, Apathie, ja selbst intellektuelle Verachtung für die Demokratie drohen um sich zu greifen. Da wirken die Revolten wie ein Weckruf.
Krise ist das zeitdiagnostische Wort der Stunde. Soziale Errungenschaften scheinen vielerorts auf dem Spiel zu stehen und dem Sparzwang der Haushalte zum Opfer zu fallen. Linke wie Rechte drängt es zur Polarisierung: Verfallsalarmismus links, Neonationalismen rechts. Es ist verrückt, stellte Dubiel schon zu Beginn der neunziger Jahre fest: Im Moment des Sieges liberaler Demokratie und mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus scheinen die demokratischen Systeme selbst „Opfer eines eigentümlichen Substanzverlustes" geworden zu sein. So befällt den politisch sensiblen Zeitgenossen bei aller Solidarität im Hinblick auf den Nahen Osten und Nordafrika nicht zuletzt ein Hauch jener Melancholie, dort einen politischen Willen zu sehen, der in gesättigten „alten" Demokratien zu schwächeln scheint.
Politik als „Kunst des Unmöglichen", wie sie der slowenische Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek einmal bezeichnete, hat einen wesentlichen Impuls der Revolte verinnerlicht: die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Heute hingegen lässt sich die Krise des Politischen, die in vielen Ländern Westeuropas die Gespenster des Totalitarismus oder der Demokratieverachtung heraufbeschwört, mit dem Begriff der „Postpolitik" fassen: Das meint nach Žižek, dass das Politische durch endlose Einzeldiskurse und unendlich viele Gremien so weit zerstückelt wird, dass eine Gesamtmarschrichtung, ein Gefühl für „das Politische" verloren geht.
Was die revoltierenden Gesellschaften vorleben, ist hingegen im besten Sinne des Wortes „Subpolitik": spontan und ungerichtet in ihrem Hervorbrechen, beseelt vom „Geist des Neubeginns", wie Hannah Arendt sagte, symbolisch aufgeladen als vermeintlich homogene Bewegung, die zur Identifikation einlädt, und „sei es nur eine Zeit lang", „nachmetaphysisch" im besten Sinne, insofern Religion die Revolten höchstens beschleunigt, nicht aber begründet. Solche Politik versteht sich auch als solidarisch, insofern in den Revolten der Mensch auf sein nacktes Menschsein verwiesen ist - ein Menschsein, das jedoch nicht als ein Gegeneinander, sondern als Miteinander erlebt wird. Europa ist von den revoltierenden Gesellschaften des arabischen Raums nicht nur als gebende Gemeinschaft gefordert. Europa nimmt in diesem Fall auch und lernt.
Von den Mythen zur Reform
Nach den Kriegsjahren sucht Serbien nicht nur Anschluss an die Europäische Union, sondern fragt nach seiner nationalen Identität zwischen Ost und West. Das fordert auch die orthodoxe Kirche heraus.
erschienen in: Bilder der Gegenwart, Oktober 2010
Majestätisch liegt sie da und reckt träge ihre Kuppeltürme in den stahlblauen Himmel: die Kathedrale des heiligen Sava in Belgrad. Ein weiß schimmernder Prunkbau, gerne als größtes serbisch-orthodoxes Gotteshaus der Welt bezeichnet, umschmeichelt von Springbrunnen und Schatten spendenden Bäumen mitten in der Stadt. Erwartungsvoll betreten Touristen die Kirche – und blicken statt in prunkvoll ausgemalte Gewölbe auf nackten, spröden Beton, Stahlträger und Baugerüste. Mächtige Neo-Renaissance. 2007 wurde der Außenbereich fertiggestellt, bis 2012 soll der Innenausbau folgen.
Nur wenige Kilometer von der Kathedrale entfernt stehen liebevoll restaurierte Barockbauten, heute Heimat von Ministerien und Regierungsbüros. Ihre Fassaden spiegeln sich im blanken Glas der Bankentürme; dazwischen ein zerbombter Bürokomplex. Im April 1999 wurde das Gebäude, das zuvor den Generalstab der jugoslawischen Streitkräfte beherbergte, von Nato-Fliegern zerstört. Ein Mahnmal, umkurvt von überfüllten Linienbussen und hupenden Autokolonnen.
Ruinen und Baustellen
Bereits das Stadtbild zeigt die Spannung auf, in der sich Serbien, das pulsierende Zentrum des Balkan, und seine orthodoxe Nationalkirche befinden. Vieles ist im Aufbruch begriffen, doch die Narben des Krieges sind noch nicht verheilt. Auf Schritt und Tritt begegnet einem die jüngste Geschichte, oft in Form der anklagenden Frage an den westlichen Besucher: „Why the hell did you throw bombs on us?“ (Warum zum Teufel habt ihr uns bombardiert?) Aber an der Ruine zeigt sich auch die Unfähigkeit des serbischen Staates, die eigenen Verwaltungsstrukturen vom spätsozialistischen Muff zu befreien und den Dschungel verschiedenster Interessen zu lichten. Erst vor kurzem hat ein Investor, der die Gebäude sanieren wollte, verzweifelt das Handtuch geworfen.
Außenpolitisch durch die kompromisslose Haltung in der Frage der Unabhängigkeit des Kosovo weitgehend isoliert und wegen des Verdachts der mangelnden Zusammenarbeit mit dem Den Haager Kriegsverbrechertribunal stets skeptisch beäugt, hat Serbien zugleich mit innenpolitischen Problemen zu kämpfen. Eine saisonale Arbeitslosigkeit von bis zu zwanzig Prozent setzt dem Land zu. Die proeuropäische Regierung unter Präsident Boris Tadić ist eine wackelig zusammengezimmerte Koalition von dreizehn Parteien und verfügt nur über zwei Stimmen Mehrheit im Parlament. Große Reformschritte sind so fast unmöglich.
Auf der anderen Seite die serbisch-orthodoxe Kirche, die – ähnlich der Kathedrale – nach außen hin einen geschlossenen, strahlenden Eindruck macht, bei genauerer Betrachtung jedoch einer Baustelle gleicht. Da ist zum Beispiel ein riesiger Reformstau, der sich unter dem nach langem Siechtum im letzten November verstorbenen Patriarchen Pavle vergrößert hat. Es gibt Machtkämpfe um kirchliche Neustrukturierungen (etwa um den Zuschnitt der Auslandsbistümer) und um eine theologisch reformoffene, ökumenische Neuorientierung.
Ein Teil des Episkopats ist noch von politischen, historischen wie kulturellen Nationalmythen durchdrungen und belastet durch radikale Ansichten die Glaubensgemeinschaft erheblich. Die mit Veruntreuung von Geldern begründete Absetzung des umstrittenen Kosovo-Bischofs Artemije (Radosavljević) im Frühjahr 2010 war dabei nur ein erstes äußeres Zeichen für jenen Umbruchprozess, in dem sich die orthodoxe Kirche seit dem Tod des letzten Patriarchen und der Wahl des neuen Patriarchen Irinej (Gavrilović) im Januar 2010 befindet.
Wer diesem Umbruchprozess auf die Spur kommen möchte, wer die aufeinanderprallenden Fraktionen erahnen und in diese so christliche und doch so fremde Welt eintauchen möchte, muss Belgrad verlassen und durch die Vojvodina reisen, die geschichtsträchtige und klosterreiche Landschaft im Norden Serbiens. Novi Sad ist mit 250 000 Einwohnern die Hauptstadt der Provinz Vojvodina, rund achtzig Kilometer nördlich von Belgrad. Cafés und Bars säumen die Straßen der mondänen Innenstadt. Nachts bevölkern unzählige Studenten und Jugendliche die Gassen und Kneipen.
Im Zentrum liegt das rot schimmernde Palais des orthodoxen Bischofs Irinej (Bulović). Höflich und in fließendem Deutsch empfängt er die Gruppe österreichischer und deutscher Journalisten. Rasch kommt der Bischof zur Sache. Er betont das gute ökumenische Klima und den interreligiösen Dialog, den er in seiner Diözese pflege. Neben der orthodoxen Mehrheit leben auch evangelische Christen, Juden und Muslime in der Stadt. Die Katholiken bilden mit 30 000 Gläubigen sogar eine recht starke Minderheit. Gegenseitige Besuche und gemeinsame Aktionen seien selbstverständlich, auch die Kooperation im jüngst eingerichteten Interreligiösen Rat funktioniere reibungslos, berichtet Irinej.
Das hängt historisch auch mit dem multireligiösen Erbe der Habsburger Zeit zusammen. Bis zum Ersten Weltkrieg war die Stadt ein Armeestützpunkt und somit auch ein Siedlungsmagnet für Ungarn, Slowaken, aber auch für rund 500.000 Donauschwaben.
Beten als Therapie
Rasch merkt man, dass man mit Bischof Irinej einen Verfechter von Reformen und Modernität vor sich hat – und einen einflussreichen Mann, der international als herausragender orthodoxer Theologe geschätzt wird und als enger Vertrauter des namensgleichen Patriarchen gilt.
Nur wenige Kilometer weiter: In warmen Rot- und Gelbtönen leuchten die Mauern des Klosters Kovilj. Mächtig ragt der Kirchturm in den schimmernden Abendhimmel, ein Storch erhebt sich von der Spitze und gleitet gemächlich über das satte Grün der umliegenden Felder. Seit zwanzig Jahren erweitern und sanieren 25 Mönche die beeindruckende Klosteranlage, deren jüngstes Prunkstück – die frisch mit leuchtenden Ikonen ausgemalte Kapelle – sie den Besuchern stolz präsentieren.
Alle Mönche haben studiert, viele haben westeuropäische Länder bereist. Erst vor kurzem wurden dem Kloster im Rahmen eines Restitutionsgesetzes zuvor unter Tito enteignete Ländereien und Einrichtungen zurückerstattet. Es gibt eine eigene Kerzengießerei und eine Schnapsbrennerei, doch landesweite Bekanntheit genießt das Kloster wegen seines starken sozialen Engagements. So betreut das Stift in fünf Außenstellen insgesamt rund hundert drogenkranke Jugendliche. Als Therapeutikum habe sich vor allem eine intensive spirituelle Begleitung bewährt, berichtet Abt Porfirije. Mittlerweile stehen Gespräche mit dem Gesundheitsministerium vor dem Abschluss, um das klösterliche Angebot in das offizielle staatliche Drogenprogramm aufzunehmen. Ein ungewöhnlicher Schritt – insbesondere aus Sicht des Klosters, denn dem sozialen Engagement über unmittelbare Nothilfe und Armenspeisung hinaus kam in der Orthodoxie in der Regel keine größere Bedeutung zu. Eine orthodoxe Soziallehre wird erst allmählich entwickelt.
Kloster Kovilj gilt als Reformkloster. Selbst die von der serbischen Orthodoxie sonst so einheitliche Antwort auf die Kosovofrage bekommt im Munde des Abtes von Kovilj erste Risse. Natürlich bleibe der Kosovo serbisches Kernland, Klosterland, das Herz Serbiens, demonstriert er zunächst Linientreue – um dann fortzufahren, dass selbstverständlich auch die Kirche wisse, dass ein Einspruch gegen die proklamierte und von etlichen Staaten bereits anerkannte Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien nicht mehr viel ändern werde. Nun gehe es darum, ein friedliches Zusammenleben der serbischen Minderheit mit der muslimischen albanischen Mehrheit praktisch zu organisieren.
Strenge Liturgie
Die andere Seite kann man bei einem Besuch auf der Fruška Gora, einem Mittelgebirgszug nahe Novi Sad, kennenlernen. Achtzehn Klöster gibt es hier, angeschmiegt an sattgrüne Hügel oder eingepasst in üppig bewaldete Täler, wo sie bereits die Osmanen, später die Nationalsozialisten und den Sozialismus leidlich überstanden haben. Seit Jahrhunderten pflegen sie den Kern des orthodoxen Christentums: die Tradition. Und sie finden damit Anhänger. Immer jüngere Mönche gründen eigene Klöster, wenden sich von der seit dem Ende des Sozialismus rapide beschleunigten Modernisierung und ihren krankhaften Auswüchsen ab – als deren schlimmste die Säkularisierung und der Glaubensabfall gesehen werden.
So etwa das Kloster Staro Hopovo. Am Ende eines schmalen Tals, nur Eingeweihten bekannt, stößt man auf eine kleine Siedlung, bestehend aus einer winzigen, neu aufgebauten Kirche und einem kleinen Wirtschafts- und Wohngebäude. Sechs junge, kaum dreißig Jahre alte Mönche spüren hier seit vier Jahren dem Erbe der Väter und dem Zauber des Anfangs nach: Stück für Stück bauen sie auf den Ruinen des alten, 1546 gebauten und unter den Osmanen zerstörten Klosters ein neues auf. Bereits zu Studienzeiten haben sich die Mönche zusammengeschlossen, mit dem Ziel, der Welt zu entsagen, die in ihren Augen im moralischen Niedergang begriffen ist. Sie wollen die alte Strenge in Form einer ununterbrochenen Liturgie pflegen.
Nicht weit davon entfernt liegt Velika Remeta, das älteste Kloster der Fruška Gora. Seine Wurzeln reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück. Die Wunden der Zerstörung durch die Osmanen im 18. Jahrhundert haben sich auch hier tief ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Kolonnen von Gläubigen, Pilgern und Besuchern drängen sich an diesem Sonntagmorgen über den schmalen Waldweg, vorbei an gediegenen Ferienhäusern vermögender Belgrader, aber auch durch arme Dörfer, die vom Straßenverkauf des in Überfülle vorhandenen Obstes und Gemüses leben. Rosen- und Lavendelduft liegt in der Luft. Im Inneren der wuchtigen Klostermauern wartet eine grüne Oase mit einem kleinen Brunnen und einer mit prächtigen Fresken ausgemalten Kirche auf die Besucher.
Velika Remeta ist ein Magnet – berühmt für seinen charismatischen Abt und die Agape mit den Mönchen im alten Refektorium im Anschluss an den Gottesdienst. Dem an die lateinische Liturgie gewöhnten Auge fällt es schwer, dem feierlichen byzantinischen Ritus mit seiner überwältigenden liturgischen Symbolfülle zu folgen. Weihrauch liegt in der Luft, als die festlichen Gesänge im traditionellen Kirchenslawisch anheben. Streng ist die Ordnung unter den Besuchern, als es zur Kommunion geht. Frauen bedecken ihr Haar mit Kopftüchern, junge Mädchen senken demutsvoll den Blick, als sie in gebückter Haltung die Kommunion aus dem Löffel empfangen. Kinderreichen Familien wird demonstrativ der Vortritt gelassen. Im hinteren Teil der Kirche sinken Frauen – auch junge – vor einem Marienbildnis im Gebet nieder.
Bei der Agape knapp drei Stunden später kreisen im Refektorium die Weinflaschen. Kaffee und Gebäck wird auf Kosten des Klosters serviert, dazu spricht der Abt – einem Entertainer gleich – in wiegendem Schritt noch einmal über die Predigt oder beantwortet Fragen der Gemeinde. Die Menschen suchen Halt und Orientierung, erklärt Abt Stephan. Ob seine Antworten auf Fragen des Zusammenlebens und der Moral auch tatsächlich im Leben da draußen tragen, wird die jeweils nächste Woche zeigen.
Das Erbe der Habsburger
Auf dem Weg zurück nach Belgrad säumen Weizen- und Maisfelder die Straße, so weit das Auge reicht. Die Vojvodina gilt als Kornkammer Serbiens. Wir kommen an Sremski Karlovci (Karlowitz) vorbei, einer kleinen lebendigen Stadt mit reicher Geschichte, wurde sie doch zum Schauplatz des für ganz Europa wichtigen Friedensschlusses zwischen dem Osmanischen Reich, Österreich-Ungarn, Polen, Russland und der Republik Venedig. Noch heute erinnert eine von der kleinen katholischen Gemeinde vor Ort gepflegte "Friedenskapelle" an dieses Großereignis, das mit Vertragsunterzeichnung am 26. Januar 1699 den Krieg beendete, der zuvor jahrzehntelang Europa in Atem gehalten hatte.
Nach der zweiten Belagerung Wiens durch das Osmanische Reich 1683 schlossen Österreich, Polen und Venedig das Wehr- und Trutzbündnis der "Heiligen Liga“. Stück für Stück wurden die Osmanen zurückgedrängt und schließlich unter Prinz Eugen bei Zenta 1697 vernichtend geschlagen. Der Friede von Karlowitz – als neutraler Ort zwischen dem habsburgischen Peterwardein und dem osmanischen Belgrad gewählt – sollte schließlich den Beginn vom Ende des Osmanischen Reiches einleiten und zugleich den Aufstieg der Habsburgermonarchie zur Weltmacht.
Die umwälzenden geopolitischen Veränderungen hatten auch für die serbisch-orthodoxe Kirche einschneidende Folgen. Zwar war die nationalkirchliche Einheit unter der Herrschaft der Osmanen seit Mitte des 14. Jahrhunderts bereits zerschlagen worden, und das Patriarchat in Peć musste mehrfach neu installiert werden, doch nach dem Frieden von Karlowitz wurde die Angst vor brandschatzenden Osmanen so groß, dass das Patriarchat 1716 in den "christlichen“ Norden verlegt wurde: in den Machtbereich der Habsburger – nach Karlowitz.
In der Folge des Ersten Weltkriegs wurde Europa neu geordnet. Das Königreich Serbien wurde mit den Gebieten Österreich-Ungarns zunächst zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, schließlich zum Königreich Jugoslawien – und das Patriarchat kehrte 1920 wieder an seinen angestammten Platz im Kloster Peć zurück. Bis heute erinnert der offizielle Titel des serbisch-orthodoxen Patriarchen an dieses Kapitel der Kirchengeschichte: "Metropolit von Belgrad und Sremski Karlovci“.
Von Beginn an waren Kirche und Nationalstaat engmaschig miteinander verwoben. 1219 war es der heilige Sava (Nemanjić), der – aus einer serbischen Herrscherdynastie stammend – sich als Mönch für die Selbstständigkeit ("Autokephalie“) der Kirche, für ihre Unabhängigkeit vom Patriarchat von Konstantinopel einsetzte. Seinem Drängen wurde nachgegeben. Zwei Jahre später krönte er seinen Bruder Stefan zum ersten serbischen König. Es folgte ein Goldenes Zeitalter des Gleichklangs von Staat und Kirche mit dem Höhepunkt der Erhebung der serbisch-orthodoxen Kirche zum eigenständigen Patriarchat 1346 und der gleichzeitigen Krönung des damaligen serbischen Herrschers Dusan zum Kaiser.
Nation und Nationalkirche
Über lange Zeit konnte sich der Staat politisch auf die Kirche verlassen. Sie nährte seine mythologischen Quellen und legitimierte die Herrschaft. Die Kirche wiederum konnte auf den Staat und seine schützende Hand hoffen. Erst unter Tito kühlte sich das Staat-Kirche-Verhältnis ab. Doch konnten die alten Kanäle erstaunlicherweise Anfang der neunziger Jahre wiederbelebt werden. Die Orthodoxie wuchs – wie fast überall in den postsozialistischen Ländern –, und mit ihr wuchs die selbstbewusste Hoffnung, an den Glanz der alten Einheit anknüpfen zu können. Fluch und Elend dieser erneuerten Einheit wurden jedoch rasch unter dem Regime Milošević sichtbar, der mit Hilfe der Kirche auf der Klaviatur der Nationalmythologie zu spielen verstand und die hässliche Fratze des Nationalismus hervorkehrte.
Als bekanntestes Beispiel dafür gilt die Rede Milosevićs von 1989 anlässlich der Gedenkfeiern
zum 600. Jahrestag der „Schlacht auf dem Amselfeld“ im Kosovo. An die historische Schlacht zwischen den Serben und den Osmanen wird in Liedern und Geschichten bis heute als „Stunde null“ der serbischen Identität erinnert. Milosević bediente sich vor einer Million Zuhörern dieses Mythos, um einen „Kosovo-Heroismus“ zu beschwören, der „sechs Jahrhunderte unsere Kreativität inspiriert und den Stolz genährt hat“. Vor dem Kriegsverbrechertribunal von Den Haag wurde diese Rede – „heute befinden wir uns wieder in Kriegen und werden mit neuen Schlachten konfrontiert“ – als ein Beleg für Milosevićs militant-nationalistische Gesinnung gewertet.
Europäische Union und Kosovo
Belastet von der jüngsten Kriegsgeschichte trägt die Einheit aus Religion, Mythologie und Politik heute nur mehr bedingt. Die rapide gesellschaftliche Modernisierung und die fortschreitende Annäherung an die Europäische Gemeinschaft prägen die Tagespolitik. Pragmatismus geht vor Pathos. Zwar versuchen etliche Bischöfe und Kirchenvertreter, den Kosovo unter Verweis auf die zahlreichen serbischen Klöster und Kirchen zum „spirituellen Zentrum“, zum „Altarraum Serbiens“ oder zum eigentlichen Geburtsort der serbischen Nation zu verklären.
Allerdings tragen diese Argumente nicht mehr weit, schon gar nicht unter der jüngeren Generation. Einen geschichtlichen Nullpunkt, einen Kraftort, aus dem sich Identität und Legitimität schöpfen lassen, gibt es nicht mehr, wenn es ihn überhaupt je gegeben hat. „Mit mythologisch verbrämter Geschichte ist keine Politik zu machen“, bringt es der österreichische Botschafter in Serbien, Clemens Koja, auf den Punkt. Nur langsam kommt diese Einsicht bei der Kirche an, die oftmals nur zu politischen Handlangerdiensten oder gar zum Dekor herangezogen wird wie etwa bei dem von Staatsseiten pompös inszenierten Begräbnis Pavles I.
Seit zwei Jahren führt der hochgewachsene Diplomat in Belgrad die Geschäfte. Einen wichtigen Schritt unternahm das Land am 22. Dezember 2009, als es den Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellte. Die Geste des Parlaments, fünfzehn Jahre nach dem Massaker von Srebrenica den Angehörigen der Opfer sein Beileid auszusprechen und die Gräueltaten des Bosnienkrieges offiziell zu verurteilen, war ein weiterer Schritt – auch wenn die Resolution nur eine äußerst knappe Mehrheit fand und von den Nationalisten aufs Schärfste verurteilt wurde.
Ein „echtes Hindernis“, so Koja, bleibe jedoch innen- wie außenpolitisch der Kosovo. Denn die EU-Integration des Landes steht und fällt mit der serbischen Kosovo-Politik. So beklagt die serbische Regierung, dass Berlin unter anderem die Anerkennung eines unabhängigen Kosovo zur Bedingung für Beitrittsverhandlungen macht. Österreich, das mit Abstand größter Investor in Serbien ist, ein hohes Ansehen genießt und großen wirtschaftlichen Einfluss hat, gehörte sogar zu den ersten Ländern, die die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt haben.
Serbien stelle sich jedoch stets wieder aufs Neue ein Bein, so Koja, wenn es etwa – wie aktuell – bei den Vereinten Nationen eine Resolution zum Kosovo einbringe, die die „einseitige Abspaltung“ des Kosovo als „inakzeptable Methode“ bezeichnet und damit dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom Sommer widerspricht. Dort wurde die Vereinbarkeit der Autonomieerklärung mit dem Völkerrecht ausdrücklich festgehalten. Auf vielfachen Druck der Europäischen Union hat Serbien die Resolution nun abgeschwächt und Dialogbereitschaft signalisiert.
Der neue Patriarch
Mit einschüchternden, wuchtigen grauen Säulen empfängt das Patriarchatsgebäude seine Gäste. Es ähnelt einer Trutzburg, die den Stürmen einer religionsverachtenden gesellschaftlichen Modernisierung zu widerstehen trachtet. Von offener Herzlichkeit ist indes der Empfang bei Patriarch Irinej: Über eine Stunde nimmt er sich Zeit für ein freimütiges Gespräch. Wach blitzen seine Augen, seine achtzig Jahre merkt man ihm trotz des langen grauen Barts nicht an.
Protokollarische Höflichkeiten werden ausgetauscht, das gute Verhältnis zu Österreich wird betont – und dann, auf Nachfrage, die Idee bestätigt, die Diözese Mitteleuropa durch die Schaffung einer eigenen Diözese in Österreich neu zu strukturieren. Rund 300 000 Serben leben in Österreich. Ein eigener Bischof wäre da „ein wichtiger Ansprechpartner“, sagt der Patriarch.
Schweres Erbe
Im Hinblick auf das Streben Serbiens nach einer EU-Mitgliedschaft zeigt sich der serbisch-orthodoxe Episkopat gespalten. Erklärte etwa der mittlerweile abgesetzte Artemije gegenüber der Zeitung „Danas“ seinerzeit, die europäische Integration drohe, die „Werte des Evangeliums durch ‚europäische Werte‘ zu ersetzen, die im Großen und Ganzen gegen das Evangelium und heidnisch sind“, so schlägt Patriarch Irinej sanftere Töne an: Es gebe keinen Grund, sich vor der Europäischen Union zu fürchten, falls Europa die serbische Identität, Kultur und Religion achte. „Wir wollen ganz gewiss zu dieser Familie der europäischen Völker gehören.“
Das Schweizer Institut „Glaube in der zweiten Welt“, das die kirchenpolitischen Entwicklungen in Osteuropa beobachtet, sieht die serbisch-orthodoxe Kirche an einer Wegscheide. Noch sei nicht klar, in welche Richtung sie sich entwickeln werde. Irinej habe die Leitung in einer schwierigen Situation übernommen. Die wichtigste Herausforderung sei neben den innerkirchlichen Machtkämpfen auch die Frage einer neuen Kommunikation mit den außerkirchlichen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Intellektuellen auf dem gesamten Balkan. Kritisiert wird die Kirche nicht zuletzt wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Aufklärungsbemühungen zu den jugoslawischen Zerfallskriegen und den verübten Kriegsverbrechen. Nicht wenige Serben beklagen einen zu starken Einfluss auf Staat und Gesellschaft. Die Kirche bleibe bislang eine Antwort schuldig, wie sie ihre Rolle sieht.
Nicht weniger innerkirchliche Sprengkraft dürfte die Absicht des Patriarchen haben, Papst Benedikt XVI. im Rahmen der für 2013 angesetzten Feierlichkeiten zum 1.700-Jahr-Jubiläum des Edikts von Mailand nach Nis einzuladen. Gefeiert wird dabei jenes auf Kaiser Konstantin zurückgehende Edikt, das die Christenverfolgung im Römischen Reich beendete und damit den Grundstein zum Aufstieg des Christentums zur Weltreligion legte.
Papstbesuch 2013?
Eine Einladung an den Papst wäre ein ökumenisches Symbol, das vom katholischen Belgrader Erzbischof Stanislav Hoćevar wie von der Apostolischen Nuntiatur sehr begrüßt würde. Das Christentum atme schließlich „mit zwei Lungenflügeln“ – der Orthodoxie und dem lateinisch westlichen Christentum, so Hoćevar. Ein Papstbesuch in Serbien zu dem Jubiläum könnte an diese Tatsache erinnern und die Lage der rund 500.000 Katholiken im Land stärken.
Die Zusammenarbeit zwischen Staat und katholischer Kirche habe Fortschritte gemacht,
bestätigt Giorgio Lingua, der Vertreter des Apostolischen Nuntius in Belgrad. Vor wenigen Monaten haben die katholischen Diözesen, Pfarreien und Orden die Anerkennung als juristische Personen erlangt, was vor allem für die Einrichtungen der Caritas eine enorme Erleichterung bedeutet.
Am 3. Oktober 2010 wird der neue Patriarch offiziell im Kloster Peć im Kosovo, dem ursprünglichen Sitz des Patriarchats, „inthronisiert“. Das Kloster, das zum Weltkulturerbe
gehört, ließ Bischof Artemije 2009 ohne Rücksprache mit Kunsthistorikern in knalligem Rostrot anstreichen, angeblich um es in der engen Rugova-Schlucht besser sichtbar zu machen. Ob von Peć auch symbolisch die Strahlkraft des Aufbruchs ausgeht, wird die Vollversammlung des Episkopats zeigen, die unmittelbar nach der Inthronisation stattfindet. Die Reformfragen sind gestellt.
Hier können Sie den als Bild-Reportage mit meinen Fotos gestalteten Beitrag im Original herunterladen:
Ich glaube, auf dass ich lebe
Eine Erinnerung an den russischen Religionsphilosophen Leo Schestow, der bereits vor 70 Jahren die aktuell diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft als Zusammenprall zweier grundverschiedener Welten beschrieb
Erschienen in CIG 35 (2009)
Im Ringen um ihre wissenschaftliche Redlichkeit hat sich in der Theologie in den letzten Jahren wie selbstverständlich eingebürgert, Glauben und Vernunft engmaschig miteinander zu verweben. Das soll helfen, eine als gründlich säkularisiert und ethisch entkleidet empfundene westliche Gesellschaft zu korrigieren. Papst Benedikt XVI. hat insbesondere durch vielbeachtete Reden in den vergangenen Jahren selbst dieses „Fides et Ratio"-Projekt vorangetrieben.
Der Widerspruch gegen eine allzu enge Verbindung ist deswegen freilich nicht geringer geworden. Ihm fehlen vielleicht nur die theologischen Leitfiguren. Vorsichtig wenden Theologen wie der Bochumer Bibelwissenschaftler Thomas Söding ein, dass sich etwa die im „Jesus-Buch" vorgelegte päpstliche Theologie durch einen „johanneischen Einschlag" und damit durch ein „Zuviel" an griechischer Philosophie auszeichne. Und der Ratzinger-Schüler und Frankfurter Fundamentaltheologe Siegfried Wiedenhofer sieht bei Benedikt XVI. eine vorschnelle Ineinssetzung der metaphysischen Vernunft mit „der Vernunft an sich". Es fehlt derzeit allerdings an kraftvollen und systematisch ausgearbeiteten Gegenentwürfen.
Ratzinger und Habermas
Hier soll an den russischen Religionsphilosophen Leo Schestow (1866-1938) erinnert werden. Dessen in seinem Sterbejahr auf Deutsch erschienenes Hauptwerk „Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie" stellt ein einziges, fünfhundert eindrucksvolle Seiten langes Plädoyer gegen die Vermengung von Glauben und Vernunft dar. Die Theologie soll sich demnach hüten vor dem Trugschluss, ihre eigene Existenz durch einen philosophischen Kuschelkurs sichern zu können. Sie arbeite damit letztlich ihrer Selbst-Säkularisierung entgegen, die sie als gesellschaftliches Gegengewicht kraftlos und als eigenständige Wissenschaft letztlich überflüssig machen würde.
Um die unterschiedlichen Lesarten von Benedikt XVI. und Leo Schestow zu verdeutlichen, lohnt ein kurzer Durchgang durch drei päpstliche Texte: der Disput mit Jürgen Habermas in der „Katholischen Akademie in Bayern" 2004, die sogenannte „Regensburger Vorlesung" 2006 und die „nicht gehaltene Rede" vor der römischen Universität „La Sapienza" 2008. Deren Aussagen sollen anschließend einigen Aspekten der „religiösen Philosophie" Schestows gegenübergestellt werden.
Ausgangspunkt der Überlegungen Joseph Ratzingers in der häufig erwähnten Diskussion mit Jürgen Habermas bildet nicht eine theologische Überlegung, sondern eine Zeitdiagnose: lebensverachtender Terror, eine Relativierung moralischer Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten sowie eine enthemmte Hoffnung auf gentechnische Manipulationen, in der sich der Mensch zum eigenen Experiment wird. Dies alles seien nicht nur Zeichen unserer Zeit, sondern zugleich Auswüchse jener „Pathologien der Vernunft", die Ratzinger erschrecken lassen: „Der Mensch ist in die Brunnenstube der Macht hinuntergestiegen, an die Quellorte seiner eigenen Existenz." Allmachtsfantasien und Zerstörung gehen dabei Hand in Hand und nähren bei dem damaligen Kardinal und heutigen Papst die „Zweifel an der Verlässlichkeit der Vernunft". „Schließlich ist ja auch die Atombombe ein Produkt der Vernunft." Konsequenterweise sieht Ratzinger die Notwendigkeit, „die Vernunft unter Aufsicht" zu stellen.
Zurück zum Naturrecht?
Als Aufsichtspersonal für die moderne, säkulare Vernunft empfiehlt Ratzinger jedoch nicht sogleich die Religion. Er weiß gerade angesichts eines religiös-fundamentalistischen Terrorismus um die gefährlichen Momente auch des Religiösen. Nein, der Theologe geht gemäßigter vor und greift zurück auf das Naturrecht. Lange Zeit galt das als philosophisch erledigt und nicht konsensfähig für eine Grundierung des Denkens. Aber laut Ratzinger appelliert das Naturrecht bis heute „an die gemeinsame Vernunft" und sucht „die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft". Erst auf dieser Grundlage einer Wiederbelebung des Naturrechtsgedankens sei es möglich, die wechselseitige Beziehung von Vernunft und Glaube neu zu entdecken. Diese könne dann zu einer „gegenseitigen Reinigung und Heilung" beitragen.
In der „Regensburger Vorlesung" 2006 wird dieser Gedanke weiter entfaltet und dahingehend zugespitzt, dass dem göttlichen Handeln selbst nun das „Vernunftgemäße" zugesprochen wird: „Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider", sagt Papst Benedikt XVI., um sogleich das griechische Denken und den biblischen Glauben miteinander zu verschmelzen: „Ich denke, dass an dieser Stelle der tiefe Einklang zwischen dem, was im besten Sinn griechisch ist, und dem auf der Bibel gründenden Gottesglauben sichtbar wird."
Den Beweis findet er in dem kleinen, jedoch bedeutungsmächtigen Wort „Logos" im Johannesevangelium. Benedikt wörtlich: „Logos ist Vernunft und Wort zugleich - eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft. Johannes hat uns damit das abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffs geschenkt, in dem alle die oft mühsamen und verschlungenen Wege des biblischen Glaubens an ihr Ziel kommen und ihre Synthese finden." Anders gesagt: Glauben bedeutet in der Theologie des Papstes die Erkenntnis der durch alle Widersprüche hindurchschimmernden, in der Schöpfung selbst aufleuchtenden Vernunft. Nicht mehr die Feuersäule, der brennende Dornbusch oder das alttestamentliche Säuseln des Windes ist Wohnort Gottes - es ist der Logos, die Vernunft.
So kritisch auch nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids (Theodizee) gefragt wird, welchen gerade die Vernunft in ihren dialektischen Verflechtungen auch als Grund unsäglicher Gewalt ausmacht - im Hinblick auf die Verbindung von Glaube und Vernunft ist der Gedanke von der Vernunft als Wohnort Gottes zunächst genial: Mit der Vernunft streitet die Theologie ja gegen den Mythos, gegen das göttliche Zürnen, gegen jede ideologische Überfrachtung des Gottesbildes. „Ich bin's" - die philosophisch begleitete Rückführung der biblischen Offenbarungsbotschaft und ihre Verbindung mit der natürlichen Vernunft dienen Benedikt als Schutz vor überkommener Mythologisierung und vor einem Willkür-Gott.
Ein wesentlich neuer Aspekt der „Regensburger Rede" ist nun jedoch die Behauptung, das Neue Testament trage - nicht zuletzt aufgrund seiner im wortwörtlichen Sinne griechischen Verfasstheit - „in sich selber die Berührung mit dem griechischen Geist". Die Verschmelzung des biblischen Glaubens „mit dem Suchen der menschlichen Vernunft" gehöre letztlich zum Urdatum des Christentums überhaupt. Diese Behauptung ist sehr weitreichend: Wurden im Disput mit Jürgen Habermas noch Glaube und Vernunft in ein Verhältnis produktiver Ungleichzeitigkeiten und gegenseitiger Läuterungs- und Reinigungsprozesse gesetzt, so umarmt der Glaube in der „Regensburger Vorlesung" die Vernunft fast „zu Tode". Anders gesagt: Der Glaube bleibt hier über jeden Selbstzweifel erhaben. Es schwächelt nicht etwa der Glaube, sondern die Vernunft.
„Eigentümliches Zwillingspaar"
In gewisser Weise ist Benedikt XVI. mit Paul Tillich der Ansicht, dass die Theologie letztlich „die stärkeren Arme" besitze. Diese Auffassung wird deutlich in der „nicht gehaltenen Rede" an der römischen Universität „La Sapienza" 2008. Darin beschreibt der Papst Glaube und Vernunft als „eigentümliches Zwillingspaar, in dem keines vom anderen gänzlich zu lösen ist und doch jedes seinen eigenen Auftrag und seine besondere Identität wahren muss".
Auch in dieser Rede diagnostiziert Benedikt XVI. für die Menschheit die Gefahr des „Absturzes in die Unmenschlichkeit", die ihn veranlasst, gegen einen verengten und vor der Wahrheitsfrage kapitulierenden Vernunftbegriff vorzugehen. Wo sich Vernunft mit einer technisch-säkularen Ratio bescheidet, wo sie sich moralischer Maßstäbe und Instanzen des Einspruchs entledigt, da bleibe sie anfällig gegenüber Willkür, Missbrauch, Gewalt und Terror. Angesichts dieser Bedrohung stelle das Christentum eine geradezu „reinigende Kraft für die Vernunft selbst" dar. Die gegenseitige Offenheit von Glaube und Vernunft, die Idee einer Begegnung gar auf gleicher Augenhöhe, ist damit wohl preisgegeben.
Hatte die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft in der Debatte mit Habermas noch in ideologiekritischer Offenheit begonnen, so verschob sich die Argumentation des Papstes immer mehr in Richtung einer theologischen Bevormundung der säkularen Vernunft. Zugleich jedoch - und das gilt es hier im Hinblick auf die folgende Auseinandersetzung mit dem Denken Leo Schestows festzuhalten - legt Papst Benedikt XVI. großen Wert auf die philosophische Anschlussfähigkeit und eine dem biblischen Glauben innewohnende Hinneigung zum vernunftgeleiteten Denken. Glaube ist demnach vor dem Richterstuhl der Vernunft als rational, als sinnvoll zu verteidigen. Mehr noch: Dem Glauben wohnt eine Ratio inne, die die säkulare Vernunft zu orientieren, letztlich sogar zu retten vermag.
Leo Schestows Lebensweg
Wo immer die Religion ihre hässliche, weil gewalttätige Fratze zeigt, legt es sich nahe, diese Potenziale bändigen und ächten zu wollen. Hier liegt ein wesentlicher Beweggrund für das päpstliche Ringen um einen Schulterschluss von Religion und Vernunft. Auf der anderen Seite darf aber nicht übersehen werden, dass auch die Religion selbst sich die Finger an der Fackel der Vernunft verbrennen kann, dass eine Koalition zwischen den beiden ungleichen Brüdern ein gefährliches Potenzial auch für die Religion besitzt.
Mit existenziellem Pathos wurde diese Kritik bereits vor siebzig Jahren von Lew Isaakowitsch Schestow, später bekannt geworden unter dem Namen Leo Schestow, formuliert. Am 31. Januar 1866 als Sohn eines wohlhabenden Großkaufmanns in Kiew geboren, lebte er nach dem Jurastudium in Moskau und Kiew zunächst viele Jahre im westlichen Ausland, kehrte dann jedoch nach Moskau zurück. Neben einer intensiven kaufmännischen Tätigkeit im Geschäft seines Vaters unterhielt er ebenso intensive intellektuelle Kontakte.
Nach der russischen Revolution verließ Schestow Russland für immer und emigrierte nach Paris. Dort fand er ebenfalls rasch Anschluss an Intellektuellen-Zirkel und wurde zu einem gefragten Redner unter anderem an der Sorbonne. Schestow starb am 20. November 1938 in Boulogne-sur-Seine nahe Paris.
Wie für viele Philosophen, so gilt auch für Schestow, dass der Vorstoß in philosophisches Neuland mit existenziellen persönlichen Erfahrungen einhergeht oder durch sie angestoßen wird. Schestows Leben wurde durch gleich zwei solcher existenzieller Erfahrungen erschüttert: die Erfahrung des russischen Revolutionsjahres 1905 mit seinen Pogromen und seiner ungezügelten Gewalt sowie der Tod seines Sohnes Sergej an der Front des Ersten Weltkriegs. Wenn Schestow formuliert: „Gott sagen heißt, dem Tod widerstehen", so findet das Zitat in eben jenen Erschütterungen seinen biografischen, erfahrungsgesättigten Ort.
Wo liegt nun der innovative Kern der Philosophie dieses erst langsam wiederentdeckten russisch-französischen Denkers? Zunächst würde er mit Blick auf die angestoßene Fragestellung wohl der päpstlichen These zustimmen, dass ein säkular enthemmtes philosophisches Vernunftdenken einer religiösen Korrektur beziehungsweise einer Einfriedung bedürfe. Sein in seinem Hauptwerk „Athen und Jerusalem" vorgelegter „Versuch einer religiösen Philosophie" baut genau auf diesem Interesse auf. Einspruch würde Schestow allerdings dort einlegen, wo Benedikt XVI. im Kielwasser der Logos-Christologie das Neue Testament und das göttliche Handeln geradezu von der griechischen Vernunft „geküsst" sieht.
Zwischen Athen und Jerusalem
Ziel der Argumentation Schestows ist zunächst nicht die innertheologische Debatte, sondern die Rettung der Philosophie aus den Fallstricken der puren „Tatsache", des bloßen „Verstehens". In einem Gang durch die Philosophiegeschichte versucht er darzulegen, dass sich die Philosophie in die Geiselhaft eines nur mehr von Kausalitätsstrukturen bestimmten Denkens begeben hat, wo sie Sokrates, Spinoza und Kant zu ihren Säulenheiligen ernannte. So jedoch strebe die Philosophie laut Schestow kraftlos und im Banne der Tatsache ihrer völligen Selbst-Säkularisierung und Entleerung entgegen, so dass sie keine Innovationen mehr leisten könne.
Mit besonderer Leidenschaft widerspricht Schestow dabei einer Grundentscheidung Spinozas, von dem „das erste Gebot des Denkens" stamme, „welches das biblische Verbot der Früchte vom Baum der Erkenntnis aufhebt". Es lautet: „Nicht lachen, nicht jammern noch verwünschen, sondern verstehen". Es ist dieses ausschließende Gegeneinander von Denken und scheinbar unvernünftigen Ausbrüchen des Lachens, Jammerns und Weinens, das Spinoza zur „Vorbedingung des vernünftigen Denkens" erklärt. Damit wird jedoch zugleich eine wichtige Verstehensdimension - nämlich jene einer durch existenzielle Erschütterungen imprägnierten Vernunft - gekappt.
Der analytische, nüchterne Blick auf die Welt - ist er wirklich das Maß aller Dinge? Gibt es nicht eine Art der Vernunft und des Wissens, in der sich manches offenbarend erst dem geistigen Auge zeigt, „wenn die leiblichen Augen ihre Schärfe zu verlieren beginnen?", fragt Schestow. Darin gibt es wohl durchaus Übereinstimmungen mit der päpstlichen Theologie. Existenzielle Erfahrungen, in denen der Mensch mit dem Tod oder dem versagten Leben konfrontiert wird, sind umstürzende Erfahrungen, die „neue Augen" verleihen. So könnte als Motto über der Philosophie Leo Schestows jener Satz Elias Canettis stehen, demnach es „die größte Anstrengung des Lebens ist, sich nicht an den Tod zu gewöhnen". Schestows Philosophie ist Einspruch - ein energischer Einspruch gegen die kalte Gleichgültigkeit einer Philosophie, die auf der Suche nach dem Unvordenklichen ihre Opfer übersieht.
Athen und Jerusalem, Philosophie und Offenbarungsglaube, sind für Schestow jedoch keine Koalitionspartner, sondern zwei produktiv widerstreitende Arten des Denkens. Als Sündenfall - und hierin zeigt sich nun auch deutlich die Kritik am „Fides et Ratio"-Projekt - erscheint ihm jeder Versuch, die Theologie philosophisch einzuholen. Indem in diesen Denksystemen Gott in das Feld spekulativer Philosophie eingepasst werde, sei er jenem Denken der Notwendigkeit unterworfen, gegen das der biblische Glaube gerade protestiert, im höchsten Maße mit der Erzählung von der Auferstehung Jesu von den Toten. Diese ist eben nicht von der Vernunft einfachhin zu deuten.
Weisheit? - Torheit?
Die von Schestow beabsichtigte Rettung der Philosophie durch die Religion ist nicht einfach auf eine Rettung der Theologie durch die Philosophie hin umzukehren. Eine Erinnerung an Schestow hilft heute vielmehr, jene Gefahren deutlicher zu benennen, in die sich eine Theologie „im Banne der Tatsache", nämlich der philosophischen Bindung des göttlichen Handelns an die Vernunft, begibt. Wer dies versucht, dem hält Schestow in aller Schärfe entgegen: „Was für Athen Weisheit ist, ist für Jerusalem eine Torheit."
Was Athen die Freude an gedanklicher Schärfe ist, ist Jerusalem die Compassion, das Mitfühlen und Mitleiden mit den Weinenden, den Trauernden, den glücklosen Gottsuchern und den an Gott Verzweifelnden. Wo Athen den Denkern gedankliche Schärfe zuspricht, empfängt der existenziell berührte Denker, dem seine Erfahrungen gleichsam den Boden unter den Füßen weggerissen haben, „neue Augen".
So liest sich Schestows Werk heute wie ein Plädoyer, das Verhältnis von Glaube und Vernunft nicht vorschnell zugunsten des Vernunftdenkens und einer Koalition des biblischen Glaubens mit der griechischen Philosophie zu entscheiden. Dagegen setzt Schestow mit dem Nachdruck eines existenziell berührten Denkers, dass man „vor allem die grundlegenden Kategorien des hellenistischen Denkens ein für alle Mal fallenlassen" müsse. Anders gesagt: Dem theologisch-hellenistischen Leitgedanken „Ich glaube, auf dass ich begreife" (credo ut intelligam) muss ein „Ich glaube, auf dass ich lebe" (credo ut vivam) zur Seite gestellt werden.