Seit über einem halben Jahrhundert ist der Sozialphilosoph Jürgen Habermas Stichwortgeber für gesellschaftliche Diskurse. Dabei spielten immer wieder auch theologische Begriffe und Überlegungen eine Rolle. Eckpunkte einer politisch-theologischen Biografie aus Anlass seines 95. Geburtstags.
Selbst ein Philosoph kann mitunter schroff werden, wenn es um die oftmals eher vermuteten denn tatsächlichen Übergänge zwischen Werk und Biografie geht. "Ich bin alt, aber nicht fromm geworden", schrieb Jürgen Habermas, der große und – wie er selbst sagt – "alte" Mann der deutschen Sozialphilosophie, in einem Interviewband aus Anlass seines damals 80. Geburtstages. Am heutigen Dienstag (18. Juni) darf er bereits einen 95. Geburtstag feiern; fromm dürfte er jedoch wohl auch trotz seines inzwischen biblischen Alters nicht geworden sein. Dass ihn jedoch religiöse, ja, theologische Fragen zeitlebens herausgefordert haben, zeigt nicht zuletzt sein zweibändiges Opus Magnum "Auch eine Geschichte der Philosophie", das 2019 erschienen ist und für intensive, auch theologische Debatten sorgte.
Gewiss, er habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass auch seine Begriffe von Verständigung und kommunikativem Handeln "vom christlichen Erbe zehren", wie er einmal in einem Interview zugestand. Dennoch beharre er auf einer "methodischen Differenz der Diskurse" in Religion und Philosophie, selbst dort, wo er sich mit seiner viel diskutierten Begriffsschöpfung der "postsäkularen Gesellschaft" oder der Forderung nach einer säkularen Übersetzung religiöser Semantik weit aus dem Fenster nachmetaphysischen Denkens lehnt - etwa, als er mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger im Jahr 2004 in der Katholischen Akademie in München über "vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates" diskutierte.
Dabei hat er – vielleicht auch in bewusster Abgrenzung gegenüber jeder theologischen Vereinnahmung – zuletzt immer wieder betont, dass sein Hauptinteresse nicht der Religion oder Theologie gilt, sondern der Klärung bzw. Ausleuchtung des dunklen Wurzelgrundes der abendländischen Philosophie. Schließlich habe die moderne Philosophie ihren Ausgang ja nicht bei Kant genommen, sondern viel früher. Und darin spielt Theologie, spielen Religion, Mythos und Ritus eine erstaunlich große Rolle. Etwa, wenn er die Emanzipationsgeschichte der Philosophie als Geschichte nicht nur des Ringens beider Sphären beschreibt, sondern – so der Clou seines letzten Werkes – er in der Theologiegeschichte selber aufklärerische Diskuse, ja, Aspekte eines sich Bahn brechenden nachmetaphysischen Denkens ausmacht. Aus diesem Grund rekonstruierte er zuletzt mit großem persönlichen Genuss, wie er einräumte, das Denken des Thomas von Aquin ebenso wie jenes von Duns Scotus, Wilhelm von Ockham und Luther.
Das beiderseits auf geneigte Äquidistanz beharrende Verhältnis zwischen Habermas und der Theologie reicht dabei nicht nur vordergründig zurück in die Zeit der ersten theologischen Befassungen mit Habermas durch Johann Baptist Metz (1928–2019) und Helmut Peukert (*1934), sondern es wurzelt letztlich in Habermas persönlicher Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Theodor W. Adorno und der frühen Frankfurter Schule.
Auschwitz als Zäsur
Begibt man sich nämlich auf die Suche nach möglichen Beweggründen und politisch-theologischen Kreuzungspunkten, so stößt man bei Habermas auf eine tiefe frühe Erschütterung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, die er selbst als Erfahrung einer "Zäsur" bezeichnet – als Zäsur, die eng mit dem Namen Auschwitz und mit den Enthüllungen rund um die Auschwitz-Prozesse (1963-65) verbunden war. Ohne diese persönliche Erschütterung, ohne das existenziell berührende Erschrecken vor der Dunkelheit des Zivilisationsbruchs, wäre er, wie er schreibt, "wohl kaum zur Philosophie und Gesellschaftstheorie gelangt". Nach Auschwitz habe "alles einen doppelten Boden bekommen" – alle guten Absichten, alle geschichtsphilosophische Kontinuität, auch die politisch von der Ära Adenauer zur Schau getragene bürgerliche Kontinuität habe auf einmal ihre Doppelbödigkeit – oder treffender: ihre Bodenlosigkeit gezeigt.
Damit konnte Habermas an dunkel schimmernde theologische Motive in der frühen Frankfurter Schule anknüpfen – Motive, die sich nicht allein im berühmten Diktum Max Horkheimers, die Kritische Theorie wisse, "dass es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn" erschöpfen, sondern die tief in die Mechanik der Frankfurter Sozialphilosophie eingebaut waren. So liest man ebenfalls bei Horkheimer etwa unvermittelt den Satz: "Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen ..., und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich."
Es ist dies – wie Habermas schreibt – der "Glutkern, der sich an der Frage der Theodizee immer wieder entzündet", der das in Kommunikations- und Handlungstheorie heruntergebremste und abgekühlte Erschrecken vor den Auswüchsen einer in ihre abgrundtiefe Gewalt abgesunkenen Aufklärung stets aufs Neue anfacht oder doch zumindest als schmerzenden Stachel der Vergesellschaftung in Erinnerung hält. Es ist dies freilich auch ein Glutkern, der den "äußersten Punkt der Verzweiflung" berührt, wie es der Theologe Helmut Peukert formuliert; ein Punkt also, an den letztlich keine Theorie sprachlicher Verständigung mehr tröstend rühren kann, wo Kommunikation nicht in Argumente und Diskurse mündet, sondern in einen Schrei.
Habermas selbst weiß um diesen Punkt - und versucht ihn in bewährter Manier kommunikativ einzuholen, etwa als er 2007 in einem Beitrag für die "Neue Zürcher Zeitung" formulierte: "Gleichwohl verfehlt die praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten."
Religion muss gelebte Praxis bleiben
Vor diesem Hintergrund formuliert Habermas schließlich auch sein Abschlussplädoyer in seinem letzten Werk "Auch eine Geschichte der Philosophie", demnach die säkulare Moderne sich zwar "aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet" habe – die Vernunft jedoch "mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern" würde. Von der Philosophie erwartet Habermas daher eine gewisse Offenheit für "unabgegoltene semantische Gehalte" – doch auch der Theologie, genauer: der gelebten, in Riten sich manifestierenden Religion schreibt der Philosoph etwas ins Stammbuch: Denn eine Befruchtung von nachmetaphysischem Denken und religiösem Bewusstsein könne nur so lange gelingen, "solange sich dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert und damit als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes behauptet."
Nur solange sich religiöse Erfahrung und theologisches Nachdenken noch auf "diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne" und hält sie die Frage für die säkulare Vernunft offen, "ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung 'ins Profane' harren". Oder wie Habermas dies in einem Interview 2019 ausführte: "Das nachmetaphysische Denken kann sich aus guten Gründen nicht mehr auf eine transzendente Macht beziehen; aber schon der triviale Impuls, sich mit dem schwer Erträglichen in der Welt nicht abzufinden, nötigt uns zur wechselseitigen Zumutung eines autonomen Urteilens und Handelns, das die Welt im Ganzen gleichsam von innen her transzendiert." Angesichts dieser – und nur dieser – Position kann man vielleicht unterstellen, dass Habermas zumindest ein wenig "fromm" geworden ist.