Theologie im toten Winkel: Was von Schirachs "Gott" zum Lehrstück macht

Die Debatte um die Sterbehilfe hat heuer in Deutschland und aktuell auch in Österreich die Wogen hoch gehen lassen. In dieser Situation zeigt Ferdinand von Schirachs Stück "Gott" eindrucksvoll vor allem eines auf: das Versagen theologischer Argumentation.

Foto: obs/ARD Das Erste/Julia Terjung
Foto: obs/ARD Das Erste/Julia Terjung

Es war zweifellos ein Fernsehereignis. Auch wenn sich nun Kritiker und Rezensenten nach Kräften anstrengen, Ferdinand von Schirachs Stück "Gott" sowie seine TV-Adaptierung, die am Montag, 23. November, in der ARD sowie im SRF ausgestrahlt wurde, zu zerlegen, so war es doch einer jener Momente, die man im Fernsehen inzwischen schmerzlich vermisst: 90 Minuten, die niemanden kalt lassen, die dicht und mitreißend inszeniert waren und die am Ende zur Positionierung aufriefen. Und das wortwörtlich, waren die Zuschauer doch in Deutschland und der Schweiz aufgefordert, über die zentrale, heikle Frage abzustimmen, ob der Protagonist, Herr Gärtner, Sterbehilfe in Anspruch nehmen können soll oder nicht. Ein Anliegen, dem sie mit einem 70 zu 30-Voting "pro Sterbehilfe" nachkamen.

 

Gewiss, "Ethik ist keine Abstimmungssache", wie Thomas E. Schmidt in einer "Zeit online"-Rezension breit ausführte; und, ja, auch das Bild von Bischof Thiel und die von ihm skizzierte theologische Überzeugung sind "schablonenhaft" und die Abstimmung im Anschluss "eine Farce", wie ein katholischer Theologe in einer "feinschwarz"-Rezension wortreich und letztlich vernichtend ausführt. Die Charaktere agieren mit professionell geskripteter Glätte und leisten sich keine argumentativen Fehler - dies gilt insbesondere für den eloquenten Anwalt Biegler, der stets die Oberhand zu behalten scheint und insofern das Publikum am Ende keineswegs unparteiisch ins Voting entlässt.

 

Geschenkt! - Denn was das Stück bzw. die Verfilmung tatsächlich existenziell macht, ist die Tatsache, dass es von jedem/jeder verlangt, sich zum Thema Sterbehilfe zu positionieren. Das Thema wird so aus dem öffentlichen Halbdunkel der Ethikräte, der parlamentarischen oder juristischen Debatten und der Oberseminare ins grelle Licht der individuellen moralischen Haltung geholt. Dort steht die Frage nun im Raum und lässt sich nicht einfach wegwischen: "Wem gehört unser Sterben?" Gibt es mehr Dinge, die das Leben und Sterben umfassen, als das individuelle Freiheitsrecht? Oder wie es die Journalistin Eva Bachinger in den "Salzburger Nachrichten" (21. November) formuliert hat: "Am Ende steht nur noch die Auseinandersetzung des Individuums mit dem eigenen Tod. Und hier gibt es kein Geländer, an dem man sich anhalten kann."

 

Und um es gleich religiös zu wenden: Lässt sich die von Bischof Thiel pars pro toto vertretene Grundüberzeugung der Heiligkeit des Lebens, der Gottebenbildlichkeit des Menschen in eine Sprache übersetzen, die der argumentativen Klinge des gewieften Juristen standhält? Die bedrängende Erkenntnis des Abends mit bzw. bei Schirachs "Gott": Nein. Eine sich religiöser Grundierungen und Semantiken bedienende Argumentation verfängt nicht (mehr). Und man ahnt, dass selbst eine philosophisch sauber durchgetaktete Argumentation am Ende einem plebiszitären Votum nicht standhalten würde. Eine Einsicht, die umso schwerer wiegt vor der aktuell laufenden Verhandlung der Thematik vor dem österreichischen Verfassungsgericht und den zahlreichen kirchlichen Stimmen, die sich im Vorfeld und begleitend mit warnenden Worten an die Öffentlichkeit und die Richterinnen und Richter gewendet haben.

 

Worum geht es konkret in "Gott"? Das Setting ist rasch erzählt: Im Rahmen einer Sitzung des (deutschen) Ethikrates wird der Fall des 78-jährigen Herrn Gärtner verhandelt bzw. angehört. Dieser - selber kerngesund - empfindet sein Leben nach dem langen, als fremdbestimmt und qualvoll beschriebenen Tod seiner Frau als leer. Er selber möchte "so sterben, wie ich gelebt habe", nämlich "ordentlich" - und das bedeutet für ihn: selbstbestimmt. Er selbst wolle Herr seines Lebens und Sterbens sein und wünscht, dass auch der Staat und die ihn betreuende Ärztin diesen seinen freien Willen respektiert und ihm eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital verschafft. Diese lehnt die Beihilfe zum Suizid ab - der Konflikt landet im Schirach-Stück vor dem Deutschen Ethikrat. Dort spielt sein Stück, in dem in Folge die Ärztin, eine Verfassungsrichterin, ein Vertreter der Bundesärztekammer und schließlich ein katholischer Bischof als Sachverständige befragt werden.

 

Theologie im toten Winkel

 

Hintergrund des Stückes bildet ein Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Februar dieses Jahres, in dem der Paragraf 217 des Strafgesetzbuches gekippt wurde, der bislang Sterbehilfe regelte bzw. verbat. Das Gericht urteilte, dass fürderhin der Wille zur Selbsttötung, sofern er ohne Zwang und bei klarem Bewusstsein sowie stetig geäußert werde, zu respektieren sei. Dazu zähle auch, Hilfe beim Suizid in Anspruch nehmen zu dürfen. Suizidbeihilfe wurde insofern in Deutschland straffrei gestellt - die Tötung auf Verlangen indes bleibt ein schwerer Straftatbestand. Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung dieses Entscheids ist weiterhin offen.

 

Um erneut an den oben geschilderten persönlichen Eindruck anzuschließen und dabei auf die Rolle und den Diskurs zwischen Bischof Thiel und Anwalt Biegler zu fokussieren: Es ist ein geradezu mäeutisches Lehrstück, welches Schirach im Dialog zwischen diesen beiden Gegenspielern konstruiert, insofern nämlich der Bischof dort am stärksten ist, wo er am wenigsten die Vokabel Gott oder Religion im Munde führt - und am schwächsten dort, wo er auf vermeintlich sicherem Terrain agiert, nämlich der Theologie und der Patristik. Wo verbietet das Christentum den Suizid in der Bibel? Wurde nicht die (Selbst)Tötung immer wieder auch christlich gedeckt durch die Kirchengeschichte? Und schließlich die "Knockout-Frage": Mit welchem moralischen Recht beansprucht die Kirche ein Wächteramt in den Fragen des Lebensschutzes vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals?

 

Der Bischof kommt ins Schleudern - und er gleichsam stellvertretend für die gesamte theologische, ja, für eine religiös aufgeladene Argumentationslinie, wird vorgeführt; ob zu Recht oder nicht, tut letztlich nichts zur Sache. Denn - wie "feinschwarz"-Rezensent Konstantin Sacher festhält - was von Schirach damit deutlich macht, ist vor allem eines: ein offenkundiges "immenses Vermittlungsproblem" der Theologie und des Glaubens. "Warum schaffen wir (die Theologinnen und Theologen) es nicht, ein besseres Bild von unserem Gegenstand zu vermitteln? Insofern ist dieses klägliche Theaterstück eben auch nur ein Spiegel des oftmals kläglichen Bildes, das die großen christlichen Kirchen in Deutschland in ethischen Diskussionen dieses Landes hinterlassen."

 

Bischöfliche Stärke im Nicht-Religiösen

 

Doch was ist die Alternative? Auch mit kühler, cooler theologischer Ethik dürfte man einen Biegler, der stellvertretend für eine ganze juristische Zunft steht, nicht überzeugen. Von Schirach zeigt eine Alternative - und zwar in jenen Passagen, in denen der Bischof zu Beginn von Frau Dr. Keller, einem Mitglied des Ethikrates und gewissermaßen Gegenspielerin von Anwalt Biegler, befragt wird. Die Position "seiner Kirche" zum Thema Sterbehilfe führt der Bischof dabei zunächst ohne religiöse Grundierung aus, d.h. ohne Verweis auf den Geschenkcharakter des Lebens oder ähnliches. Das entscheidende Argument des Bischofs ist dabei das sogenannte "Slippery-Slope-Argument", also die Warnung vor einem "Dammbruch".

 

Dieser wird nicht nur auf der historischen Folie der NS-Euthanasie skizziert, sondern auch geschickt vor dem Hintergrund des modernen Gleichbehandlungsgrundsatzes: Es sei nämlich kurzsichtig anzunehmen, dass die bloße Beihilfe zum Suizid nicht auch aktive Sterbehilfe hinter sich herziehen werde, so der Bischof - man denke daran, was geschehe, wenn ein Patient seinen freien Willen zum Sterben zwar noch artikulieren, das Medikament dann aber selber nicht mehr einnehmen könne. Dies werde den Weg zur aktiven Sterbehilfe ebnen und zudem den Druck auf all jene subtil erhöhen, die nicht mehr dem gesellschaftlichen Ideal des produktiven Staatsbürgers entsprechen: "Die Freiheit wird zum Zwang."

 

Stark ist dieses Argument, das ja tatsächlich vielfach von kirchlichen Proponenten gebraucht wird, insofern, als es nicht an ein religiöses Bekenntnis gebunden und also verallgemeinerbar ist. Bezeichnend entsprechend, dass es von Anwalt Biegler nicht aufgegriffen wird. Stark - und ebenfalls unwidersprochen vom Anwalt - das zweite bischöfliche Argument: "Mein Leben gehört nicht nur mir". Damit wird die das gesamte Stück grundierende Basisannahme des allein gültigen eigenen, freien Willens infrage gestellt - und die Frage, wem das eigene Leben und der eigene Tod gehört, zumindest dahingehen geöffnet, dass einem solipsistischen Menschenbild ein solidarisches Menschenbild zur Seite gestellt wird.

 

Übersetzungen für die religiös Unmusikalischen

 

Was also bleibt am Ende aus religiöser, theologischer Sicht übrig? Es ist wohl die demütige Erkenntnis, dass selbst vermeintlich religiös fest gefügte Argumente im gleißenden Schein eines juristischen Brennglases nur bedingt Stand zu halten vermögen. Wenn es zum Schwur kommt, zu den Quellen der Überzeugung, dann bleibt - dem Stück von Schirachs zufolge - einzig das Bekenntnis übrig. Wie es auch Bischof Thiel am Ende im Dialog mit dem Anwalt spricht: Es ist dies die religiöse Überzeugung, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist, das es anzunehmen und durch alles Leiden hindurch zu tragen gilt.

 

Letztlich illustriert von Schirach damit das Dilemma, was der Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde schon 1964 in den viel zitierten Satz goss: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". Das mag ernüchtern - es kann aber auch zu einer Neujustierung des Ziels theologischer bzw. religiöser Rede und Argumentation in heiklen Fragen beitragen: Nicht die gesetzgeberischen Verfahren und ihre Mechanik sind der erste Adressat theologischer Argumente, sondern das Individuum, das im kalten Raum säkularer und liberaler Freiheit gehalten ist, sich als solidarisches und verantwortliches Subjekt zu verstehen.

 

Der juristische Zug der Liberalisierung wird sich auch im Bereich der Sterbehilfe theologisch nicht aufhalten lassen. Umso mehr gilt es, die Argumente, die bleiben, so zu übersetzen, dass sie von jenen verstanden werden, die zwar religiös unmusikalisch, zugleich aber von tiefem Unbehagen über die gesellschaftlichen Verschiebungen bewegt sein mögen. Dabei wird es auch um die Frage gehen, ob ein streng individualistischer Zugang zur Frage nach dem persönlichen Tod - wie er im Stück durch die Argumentation des Anwalts vorexerziert wird - das letzte Wort haben soll. Und wenn ja, sollte dabei neben der Individualnatur nicht auch die Sozialnatur der Person so in Blick genommen werden, dass die Konsequenzen einer Liberalisierung der Sterbehilfe für Mensch und Gesellschaft noch klarer werden? Angesichts der Endgültigkeit einer Entscheidung für den Tod ist "Gott" eine eindringliche Mahnung, die Dinge ganz bis zum Ende zu denken.

 

Erschienen in: Kathpress-Info-Dienst vom 27. November 2020

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