Wer steht für die unschuldigen Opfer ein? - Ein Interview mit JB Metz

Ein Gespräch aus Anlass seines 80. Geburtstages mit Johann Baptist Metz - erschienen 2008 in der Zeitschrift "Orientierung" und nun aus Anlass seines Todes wieder aus dem Archiv geholt


 

Herr Prof. Metz, Ihre eigene theologische Biographie ist vor allem mit dem Namen Karl Rahners verknüpft. Welche Rolle hat er, hat seine Theologie für Sie selbst gespielt?

 

In der Tat habe ich meine zentrale theologische Prägung durch meinen Lehrer und Freund Karl Rahner erfahren. Über ihn habe ich mich eingefädelt in den Traditionsstrang katholischer Theologie. Als Rahner 1984 starb, galt er vielen als der bedeutendste und einflussreichste katholische Theologe seiner Zeit und als eine gewaltige Herausforderung und Inspiration für seine Kirche. Dabei hatten seine Einsprüche immer die Gebärde einer rettenden Kritik. Für die gilt freilich auch: Wer retten will, muss wagen. Rahners Treue zum Zweiten Vatikanischen Konzil, zu dessen Theologie er einen kaum zu überschätzenden Beitrag geleistet hat, war eine offensive, in die Zukunft blickende Treue. Gleichwohl scheint er heute vielen fern und fremd geworden. Deshalb möchte ich an seine hintergründige Präsenz in der gegenwärtigen Theologie erinnern: Wenn nämlich die katholische Theologie heute schon wieder anderes sieht und weiter sieht als er, so nicht zuletzt deswegen, weil er sie mit seiner "anthropologischen Wende" der Gottesrede auf die Problemhöhe der Zeit und damit in eine produktiv-kritische Auseinandersetzung mit der Moderne geführt hat wie kaum ein anderer zuvor. Und wenn ich ihn zuweilen einen "Klassiker" der modernen katholischen Theologie nenne, dann nicht, um ihn zu historisieren, sondern um zu betonen, dass Rahner ein Theologe ist, von dem man auch dann noch lernen kann und soll, wenn man schon zurückzutragen und zu widersprechen begonnen hat.

 

Sie selbst haben - wie Sie sagen - bereits früh begonnen zurückzufragen und zu widersprechen. Was war der Anlass Ihres Widerspruchs, was waren die Reibepunkte?

 

Widersprochen habe ich Rahner insbesondere im Blick auf den philosophischen Ansatz der von ihm initiierten "anthropologischen Wende" in der biblischen und christlichen Gottesrede. So notwendig diese Hinwendung zum konkreten Menschen in der Theologie ist, so wenig sah ich es als zielführend, sie rein bewusstseinsphilosophisch, d.h. "transzendental", zu vollziehen, wie Rahner dies gemacht hat. Diese "anthropologische Wende" muss in meinen Augen vielmehr von vornherein mit Blick auf den Menschen in Geschichte und Gesellschaft - also "dialektisch" - verfahren. Ich habe dieses Anliegen mit dem Stichwort "Politische Theologie" bezeichnet - zunächst unbekümmert genug ob der Missverständnisse, die der semantische Druck der "klassischen" Politischen Theologie (von der Stoa bis zu Carl Schmitt) auf "meine" Theologie ausüben würde. Inzwischen gibt es hinreichend Literatur zu dieser Bezeichnungsfrage. Mir geht es allemal um Theologie: um die Frage nach den öffentlich vertretbaren Grundlagen der Rede vom Gott der biblischen und christlichen Traditionen in dieser Zeit.

 

Damit haben Sie bereits das Stichwort genannt: Sie gelten als "Vater" der "Neuen Politischen Theologie", deren Grundfrage - wie Sie selbst sagen - die Frage nach den öffentlich vertretbaren Grundlagen der Gottesrede in dieser Zeit ist. Wie hat sich bei Ihnen herauskristallisiert, dass es eines neuen Ansatzes bedurfte? Was waren Ihre Gesprächs- und Diskurspartner?

 

Zum lebensgeschichtlich-biographischen Hintergrund dafür, dass die Rede vom Menschen und der Menschheit nicht in abstrakter, geschichtsferner Universalität geschehen dürfe, habe ich schon des öfteren Auskunft gegeben. Hier will ich nur kurz auf die philosophischen Einflüsse und Auseinandersetzungen bei der Entfaltung dieses theologischen Ansatzes im Gedächtnisraum des Christentums hinweisen. Karl Rahner hatte mich in den frühen sechziger Jahren in die Internationale Paulus-Gesellschaft eingeführt, die sich schließlich immer mehr auf Christentum-Marxismus-Diskussionen konzentrierte, nicht zuletzt mit Marxisten des "Prager Frühlings" - ein Gespräch, das bekanntlich durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag 1968 ein abruptes Ende fand. Mich haben diese marxistischen Positionen vor allem als Konzept einer "säkularen Theodizee" interessiert. Ich wollte der politischen Kultur diese Theodizeeperspektive nicht ersparen, wollte sie freilich auch noch anders als im Marxismus zur Sprache bringen, nämlich immer und unbedingt auch als Frage nach dem Leid der Anderen, dem Leid gar der bisherigen Feinde und als Frage nach den vergangenen Leiden, an die kein noch so leidenschaftlicher Kampf der Lebenden versöhnend rühren kann.

 

Immer wieder habe ich mich gefragt, warum man unserer Rede von Gott

eine solche Katastrophe, wie überhaupt die himmelschreienden

Leidensgeschichten der Menschen so wenig ansieht und anhört. 

 

Wichtig wurden für mich dabei die persönlichen Gespräche mit Ernst Bloch und dann insbesondere mit den Frankfurtern, vorweg mit Theodor W. Adorno und - bis heute - mit Jürgen Habermas, von dem ich mir immer noch ein spätes Buch zu Walter Benjamin erhoffe. Erwähnen möchte ich noch kurz, dass es nicht die Theologie war, sondern die heute gern geschmähte Atmosphäre der 68er Jahre, die mir eine allzu geschmeidige theologische Rede von der Geschichtlichkeit menschlicher Existenz ausgetrieben hat, indem sie mich mit ihren kritischen Fragen zur "Unfähigkeit zu trauern" in die Konfrontation mit der konkreten Geschichte selbst gezwungen hat, mit jener öffentlichen Geschichte, die einen so katastrophischen Namen wie Auschwitz trägt. Immer wieder habe ich mich seitdem gefragt, warum man unserer Rede von Gott eine solche Katastrophe, wie überhaupt die himmelschreienden Leidensgeschichten der Menschen so wenig ansieht und anhört. Gegen eine von allen Gefahren ausgebügelte Eschatologie suchte ich den Kern der biblischen Apokalyptik zu erinnern, der nicht von zelotischen Untergangsphantasien geprägt ist, sondern der um eine Wahrnehmung der Welt bemüht ist, die das "enthüllt" und "aufdeckt", was wirklich geschieht - gegen die in allen religiösen und metaphysischen Weltanschauungen immer wieder auftauchende Neigung, die Opfer unsichtbar und die Schreie unhörbar zu machen.

 

Was ist das Politische an der Neuen Politischen Theologie? Und welche Einsprüche erhebt sie heute gesellschaftlich, aber auch innertheologisch?

 

Politisch ist hier zunächst ganz schlicht im Sinne von "öffentlich-belangvoll" zu verstehen. Dieser "politische" Ansatz der Theologie wendet sich gegen die Selbstprivatisierungssymptome in der Theologie und im Christentum. Er suchte zunächst jene Selbstprivatisierungstendenzen kritisch aufzubrechen, mit denen die Theologie undialektisch auf den Geist der europäischen Moderne, auf das Auseinandertreten von Religion und Gesellschaft im Zuge der politischen Aufklärung und der dadurch bedingten "neuen Öffentlichkeit" reagiert hat. Inzwischen macht er darauf aufmerksam, dass es heute ganz neue Gefahren der Selbstprivatisierung des Christentums überhaupt und seiner Institutionen gibt - angesichts des durch die Globalisierung verschärften Pluralismus und angesichts einer dadurch bedingten strikt pluralistischen Öffentlichkeit.

 

An der Wurzel der christlichen Gottesrede schlummert immer

auch ein Gerechtigkeitsthema, die Frage nach der Gerechtigkeit

für die unschuldig und ungerecht Leidenden.

"Deus caritas est", betont die erste Enzyklika Benedikts XVI. zu Recht.

"Deus et iustitia est", erinnert die Neue Politische Theologie. 

 

Wenn Sie auf diese Weise die Politische Theologie als theologisches Kritik- und "Reformprojekt" beschreiben, drängt sich die Frage auf, wo und wie sich die Politische Theologie neben aller notwendigen Kritik noch um die tatsächliche Rede von Gott bemüht.

 

Die Neue Politische Theologie möchte nichts anderes sein als die Gestalt einer heute geforderten fundamentalen Theologie. In ihrem Kern schlummert eine Frage und ein Thema, das in der Sprache der Schule "Theodizee" heißt: die Frage nach Gott angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, "seiner" Welt. Diese Frage ist hier nicht formuliert im Sinn einer griechisch-philosophischen Theodizee, sondern im Stil der apokalyptisch-biblischen Theodizee, in der diese Frage als Schrei in der Situation und der Sprache der Glaubenden selbst auftaucht, so dass sich darin das Gottesgedächtnis der biblischen und christlichen Traditionen von vornherein mit der Passionsgeschichte der Menschheit verbindet. An der Wurzel der christlichen Gottesrede schlummert immer auch ein Gerechtigkeitsthema, die Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig und ungerecht Leidenden. "Deus caritas est", betont die erste Enzyklika Benedikts XVI. zu Recht. "Deus et iustitia est", erinnert die Neue Politische Theologie. Nun entstand aber im Christentum, das doch nicht trennen soll, was in Gott verbunden ist, von Anfang an eine Theologie, die das Gerechtigkeitsthema - um das Mindeste zu sagen - schwächt. Von Anfang an versucht die christliche Theologie die die biblischen Traditionen zutiefst beunruhigende Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden allzu schnell umzusprechen in die Frage nach der Erlösung der Schuldigen. Christologie als Soteriologie besänftigt, ja stellt den Schrei still nach der großen Gottesgerechtigkeit, obwohl doch dieser Schrei auch zum mystischen Hintergrund des Christentums gehört - bis aller Hunger und Durst nach dieser Gerechtigkeit gestillt sein werden in jener Auferweckung der Toten, die den Christen im Glauben an die Auferweckung des Christus verheißen ist. So lese ich jedenfalls die Weltgerichtsparabel von Matthäus 25.

 

Damit haben Sie das für die Politische Theologie und Ihr Schaffen stets zentrale Thema angesprochen. Wie lässt sich daraus in einer auch moralisch hochgradig ausdifferenzierten pluralen Gesellschaft eine dennoch zusammenbindende und umfassende Perspektive entwickeln, ohne der Gefahr zu erliegen, das Leiden nur mimetisch zu verdoppeln?

 

Unter dem Stichwort der "Compassion" und mit Berufung auf die "Autorität der Leidenden", der ungerecht und unschuldig Leidenden, habe ich versucht, in der unwiderruflich anerkannten Vielfalt der Religionen und Kulturen ein alle verpflichtendes und in diesem Sinn wahrheitsfähiges Kriterium der Verständigung und des Zusammenlebens zu formulieren und mit Hilfe der "memoria passionis" zu begründen, jener meines Erachtens einzigen universalen Kategorie, die uns nach der Religions- und Ideologiekritik der Aufklärung, nach Marxismus und Nietzsche und den postmodernen Fragmentierungen der Geschichte überhaupt noch geblieben ist und die es ermöglicht, die Welt als Passionsgeschichte der Menschheit zu lesen. Diese gewissermaßen "negative Theologie" der Welt bietet die Möglichkeit, die Rede vom biblischen Gott nicht nur als Kirchenthema, sondern auch als Menschheitsthema zu begreifen, ohne dabei totalitär und antipluralistisch zu werden.

 

Was ist es sonst, das unsere Welt auch in diesen Zeiten

der Globalisierung in Frieden zusammenhalten kann?

Der Satz von der elementaren Gleichheit aller Menschen,

diese stärkste Vermutung über die Menschheit,

hat ein biblisches Fundament. 

 

Worin liegt konkret das kritische und vielleicht auch nicht-religiösen bzw. säkularen Zeitgenossen einleuchtende Moment, wenn man - wie Sie sagen - die Welt als "Passionsgeschichte der Menschheit" begreift?

 

Ich möchte darauf mit einer Gegenfrage antworten: Was ist es sonst, das unsere Welt auch in diesen Zeiten der Globalisierung in Frieden zusammenhalten kann? Der Satz von der elementaren Gleichheit aller Menschen, diese stärkste Vermutung über die Menschheit, hat ein biblisches Fundament. Seine moralische Wendung, in der er vom Christentum angenommen und mit der Botschaft der unzertrennbaren Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, von Gottesleidenschaft und Mitleidenschaft verkündet wird, lautet etwa: Es gibt kein Leid in der Welt, das uns nicht angeht. So verweist dieser Satz von der elementaren Gleichheit aller Menschen auf die Anerkennung einer Autorität, die allen Menschen zugänglich und zumutbar ist, auf die Autorität der Leidenden, auf eine Autorität, die vor jeder Abstimmung und Verständigung eigentlich alle Menschen, ja alle, ob religiös oder säkular, verpflichtet und die deshalb von keiner humanen, auf die Gleichheit aller Menschen pochenden Kultur und von keiner Religion - auch von der Kirche nicht - hintergangen und relativiert werden kann. Deshalb auch wäre die Anerkennung dieser Autorität jenes Kriterium, das den Religions- und Kulturdiskurs in globalisierten Verhältnissen orientieren könnte. Sie wäre schließlich die Basis eines Friedensethos für eine strikt pluralistische Weltöffentlichkeit, und jedenfalls wäre eine europäische Politik, die sich diesem biblischen Erbe der "Compassion" verpflichtet weiß, mehr und anderes als die pure Vollstreckerin von Markt und Technik und den sogenannten Sachzwängen in den Zeiten der Globalisierung.

 

Was ist Ihr Eindruck von der heutigen theologischen Szenerie in Deutschland? Teilen Sie den Eindruck, dass es zwar einen laufenden theologischen Wissenschaftsbetrieb, jedoch ein gleichzeitiges Fehlen "profilierter" theologischer Ansätze gibt? Und wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die gegenwärtig sich abzeichnende "biographische Welle" in der Theologie ein?

 

Ich vermute, dass Ihre Frage - zumindest auch - auf die Situation der heutigen Bologna-Theologie zielt. Nun bin ich als theologischer "Einzelkämpfer" alten Stils vielleicht nicht hinreichend befugt, über das sogenannte Bologna-Konzept in seinen Folgen für die Geisteswissenschaften und speziell für die Theologie zu urteilen. Für mich lauert in diesem Konzept jedenfalls die Gefahr einer kadettenschulartigen Nivellierung des theologischen Lehrbetriebs an den Universitäten. Und die kann man meines Erachtens auch nicht einfach durch eine "biographische Welle" in der Theologie ausräumen. Jedenfalls muss hier, wie auch bei den aktuellen Ermunterungen zu mehr theologischer Essayistik, genauer zugesehen werden. Gewiss, Theologie ist nicht ohne Biographie. Das unterscheidet sie von Religionswissenschaft und Religionsphilosophie. Es geht dabei allerdings nicht um die fabulierfreudige Ausbreitung von privaten Lebensgeschichten.

 

"Der Mensch", wie er uns bisher bekannt und anvertraut ist,

ist mehr als sein eigenes Experiment, er bleibt auch

- und zwar fundamental - sein eigenes Gedächtnis.

Er verdankt sich nicht nur seinen Genen,

sondern auch seinen Geschichten. 

 

Der biographische Zug der Theologie empfängt seine Legitimation ausschließlich aus der Frage, wie denn der heute immer schmerzlicher klaffende Riss zwischen Glaubenswelt und Lebenswelt zu überwinden sei, wie also die Glaubenssprache auch in unserer säkularen Welt als Erfahrungssprache zu formulieren und zu behaupten sei. In diesem Sinn habe ich schon vor Jahrzehnten die Frage "Theologie als Biographie?" gestellt und in meiner Laudatio zu Karl Rahners 70. Geburtstag 1974 von seiner Theologie als "mystischer Biographie eines Christenmenschen" gesprochen. Hier türmen sich natürlich die Rückfragen. Es geht vor allem um die kommunikative Würde von Erinnerung und Erzählung, von zwei Kategorien, die ich seit langem dem theologischen Diskurs immer wieder aufzudrängen suche. Schließlich sind wir Christen in der Wurzel immer eine Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft geblieben.

 

Setzen Sie sich mit einem solchen Ansatz nicht selbst einem Vorwurf aus, den Sie ihrerseits mehrfach der heutigen theologischen Szene gemacht haben, nämlich dem, die Moderne und die Aufklärung unterlaufen oder sie sozusagen "postmodern" überholen zu wollen, ohne durch sie hindurchgegangen zu sein?

 

Lassen Sie mich zu meinem Plädoyer für eine narrativ-praktische und anamnetische Grundverfassung des Christentums und seiner Gottesrede dies sagen: Wo sich die Moderne im Namen von Aufklärung der geschichtlichen Dialektik von Erinnern und Vergessen ganz und gar zu entziehen sucht, wo sie also die sogenannte "Dialektik der Aufklärung" zugunsten einer erinnerungs- und erzählfreien Rationalität preisgibt, gründet sie die modernen Aufklärungsprozesse zwangsläufig auf ein Vergessen, und sie stabilisiert damit die heute zu beobachtende kulturelle Amnesie mit ihrem äußerst schwachen Bewusstsein von dem, "was fehlt". Lassen Sie mich das kurz auf ein aktuelles Problem beziehen. Beim gegenwärtigen Streit um das "Experiment Mensch" kann eine moderne und aufgeklärte Rationalität ihren humanen Charakter gegenüber der zunehmenden Dominanz rein technischer Rationalität nur sichern, wenn sie sich bei ihrer Rede von "dem Menschen" auf eine erinnerungsgespeiste Semantik stützt, also auf eine bereits in unsere menschliche Sprache eingelagerte Erinnerung. "Der Mensch", wie er uns bisher bekannt und anvertraut ist, ist mehr als sein eigenes Experiment, er bleibt auch - und zwar fundamental - sein eigenes Gedächtnis. Er verdankt sich nicht nur seinen Genen, sondern auch seinen Geschichten. Will er hinter sich kommen, muss er nicht nur auf seine Experimente bauen, sondern sich auch etwas erzählen lassen. Die damit angedeutete Unterscheidung zwischen technischer und anamnetischer Rationalität ist nicht nur wichtig für die Theologie, sondern auch für jede Anthropologie, für die "der Mensch" mehr ist und mehr bleiben soll als das letzte noch nicht völlig - biotechnisch oder neurotechnisch - durchexperimentierte Stück Natur.

 

Ich habe mich oft gefragt,

warum die Kirche sich eigentlich mit unschuldigen Opfern

immer schwerer tut als mit schuldigen Tätern.

Diese Frage ist nicht rein spekulativ auszuräumen,

sondern eigentlich nur im Blick auf das Rechtsverständnis

und das Verfassungsverständnis der Kirche. 

 

Was sind Ihres Erachtens die liegengebliebenen Fragen, vielleicht die "Leerstellen" der Neuen Politischen Theologie?

 

Im Rückblick auf mein eigenes theologisches Schaffen muss ich eingestehen, dass ich - und das mag vielleicht verwunderlich klingen - der Frage des Kirchenrechts bzw. der Verfassung der Kirche zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet habe. Zur Erklärung nur so viel: Ich habe mich oft gefragt, warum die Kirche sich eigentlich mit unschuldigen Opfern immer schwerer tut als mit schuldigen Tätern. Diese Frage ist nicht rein spekulativ auszuräumen, auch nicht mit moralischen Appellen, sondern eigentlich nur öffentlich-rechtlich, im Blick auf das Rechtsverständnis und das Verfassungsverständnis der Kirche. Gibt es aber ein kirchliches Rechtsverständnis, das unter dem Primat einer rechtschaffenden Gerechtigkeit für die ungerecht und unschuldig leidenden Opfer steht? Oder ist das durch die strukturelle Überzeichnung des Kirchenrechts und der kirchlichen Verfassung durch das antike römische Recht von vornherein vereitelt? Solchen und ähnlichen Fragen bin ich bis heute ausgewichen. Aus mangelnder juristischer Kompetenz? Aus theologischer Blindheit für den Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit? Oder einfach aus mangelnder theologischer Zivilcourage?

 

Das heißt, das Gerechtigkeitsthema müsste Ihres Erachtens neu und vertieft in die öffentlich-rechtliche Verfasstheit der Kirche, in das Kirchenrecht eingepasst und eingewoben werden?

 

So könnte man sagen, wobei Christen gewiss nicht nur Praktiker, sondern auch Mystiker dieser Gerechtigkeit sind - aber eben Mystiker "mit offenen Augen", Mystiker einer Compassion, einer Mitleidenschaft, die meines Erachtens heute auch zum wichtigen Kennwort der Nachfolge Jesu geworden ist. Diese Mystik der Gerechtigkeit ist keine antlitzlose Leidensmystik, wie in zentralen Formen ostasiatischer Mystik. Sie ist vielmehr eine "antlitzsuchende" (Benedikt XVI.) Mystik. Sie führt in die Begegnung mit den Antlitzen der Leidenden. Die dabei sich abzeichnende Erfahrung wird zum irdischen Vorschein der Nähe Gottes in seinem Christus: "Herr, wann hätten wir dich je leidend gesehen? Und er antwortet ihnen: Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser Geringsten getan habt, habt ihr mir getan. Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, habt ihr mir nicht getan."

 

Im Original kann das Interview hier heruntergeladen werden:

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Wer steht für die unschuldigen Opfer ein?
Ein Gespräch mit Johann Baptist Metz aus Anlass seines 80. Geburtstages, erschienen 2008 in der Zeitschrift "Orientierung"
JG 72_HEFT 13-14_DATUM 20080731.PDF.pdf
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