Charles Taylor zählt zu den großen Denkern der Gegenwart. Gegen die demokratische Melancholie der Gegenwart setzt er auf Multikulturalismus, basisdemokratischen Aufschwung und religiöse Suchbewegungen als Quellen der Hoffnung. Am 5. November feierte er seinen 85. Geburtstag.
erschienen in: "Die Furche", 1. Dezember 2016
Trump. Ausgerechnet. Charles Taylor, der große kanadische Philosoph und Vordenker einer multikulturellen Gesellschaft, sinkt in seinem Schreibtischstuhl zusammen, atmet tief ein. Der neue „President elect“ kann zweifellos als Gegenentwurf zu allen philosophischen wie politischen Anliegen betrachtet werden, die Taylor zeitlebens verfolgt hat. Seine Verteidigung einer multikulturellen Gesellschaft, sein Eintreten für ein basisdemokratisches lokales Erwachen, sein Votum für eine auf sozialem Ausgleich basierende Gesellschaftsordnung – ein Raub der Flammen einer akuten demokratischen Krise in den USA.
Könnte man meinen. Doch dann hebt er den Kopf und spricht leise aber bestimmt davon, dass selbst die Wahl Donald Trumps noch als Ausdruck eines ursprünglichen, wenn
auch fehlgeleiteten demokratischen Ethos betrachtet werden könne. Der Wille des Volkes – er ist ebenso wenig erloschen wie die unbändige Hoffnung des Philosophen, schilderte ein Reporter des Magazins „The New Yorker“ seine Eindrücke jüngst nach einer Begegnung mit Taylor.
„Wenn wir das Gefühl zulassen, dass wir die Dinge nicht mehr verändern können, dann geben wir uns völlig auf“, so Taylor. „Das Spiel ist noch nicht zu Ende! Wir können noch immer rausgehen und
kämpfen und das Blatt wenden.“ (siehe auch Bericht in "Montreal Gazette")
Erstaunlich jugendliche Worte aus dem Mund eines 85-Jährigen. Dabei könnte man es Taylor nachsehen, wenn er zerknirscht wäre: Denn mit Trump hat nicht nur das „Big Money“ obsiegt – die Vereinigten Staaten sind auch intellektuell in eine Art „spirituellen blackout“ (C. West) gerutscht: Die intellektuell fruchtbaren Debatten der 1980er und 90er-Jahre, die Auseinandersetzungen zwischen einem politisch-wirtschaftlichen Liberalismus, wie ihn John Rawls etablierte, und dem Kommunitarismus, zu dem auch Taylor zu zählen ist – sie wurde durch Trumps polternden Sieg gleichsam zu Grabe getragen.
"Bei Taylor drängt der Gedanke stets zur Tat.
Wahrheit bewahrheitet sich allein in ihrer politisch-moralischen Praxis."
Es mag kontinentaleuropäische Augen und Ohren irritieren, wenn die grobe Skizze eines intellektuellen Lebens par excellence immer wieder die Niederungen politischen Lebens streift. Doch tatsächlich liegt darin wohl ein weiteres Geheimnis der bleibenden Aktualität und auch Relevanz des Taylorschen Denkens. So drängt der Gedanke bei Taylor stets zur Tat; Wahrheit bewahrheitet sich allein in ihrer politisch-moralischen Praxis. Das hat Taylor nicht zuletzt in seinem Opus Magnum, seinen Tauchgängen nach den „Quellen des Selbst“, aber auch in seinem politischen Engagement in seiner kanadischen Heimat eindrucksvoll dargelegt.
Dieser Agilität, die in Praxis drängt, ist es zu verdanken, dass bei Taylor nicht ein zentrales philosophisches Motiv auszumachen ist. Die Kontingenz des Denkens und die Wertschätzung der Vielfalt macht ihn zu einem im besten Sinne synthetischen Denker – darin dem nahezu gleich alten Vordenker des „kommunikativen Handelns“, Jürgen Habermas, nicht unähnlich. So zählen beide zur aussterbenden Spezies der Universalgelehrten, die nicht nur analysieren, sondern die motivieren wollen, die Fragmente eines von der Moderne destabilisierten Lebens unter einem nicht länger bestirnten Himmel neu zusammenzufügen.
So wundert es auch nicht, dass Habermas in einem Geburtstagsbrief an „Chuck“ – wie Taylor von Freunden genannt wird – schreibt, er habe das Gefühl, „dass wir Seite an Seite dasselbe Projekt verfolgen“: das Projekt einer Gesellschafts- und Demokratietheorie, die die Multioptionalität der Moderne als riskante, wenngleich unumkehrbare Wirklichkeit ernstnimmt und die darin nach Spuren des „guten Lebens“ sucht. Der eine dabei mit dem Rucksack christlicher Hoffnung unterwegs, die er selbst durch die Stürme eines säkularen Zeitalters hindurchträgt, der andere aus den dunkel schimmernden geschichtsphilosophischen Quellen der Frankfurter Schule schöpfend. Beide bewegt von einem je eigenen „Unbehagen an der Moderne“, so der Titel eines der Schriften Taylors.
"Taylor ist ein Meister der Mäeutik, d.h. der Hebammenkunst, durch den Dialog und das Hören auf sein Gegenüber Fragen und Antworten erst auf die Welt zu bringen."
Auf der Landkarte seines Denkens, die in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „transit“ Freunde, Schüler und Weggenossen Taylors zeichnen, ragen einige Facetten wie Gebirgszüge hervor, so etwa seine zentrale Frage, was es heißt, ein menschliches Wesen zu sein. Taylor geht es dabei vonBeginn an um die Abwehr eines reduktionistischen Verständnisses des Menschen: Identität erschöpft sich nicht in der monolithischen Idee der Vernunft, sondern sie ist ein Wechselspiel aus er- und gelebter Moral, aus Begegnungen, Lernprozessen, kurz: sie ergibt sich erst aus dem vollständigen „In-der-Welt-sein“ des Menschen. Ist doch eh klar, könnte man kurzschlüssig einwerfen. Aber so klar ist das in der philosophischen Debatte eben gerade nicht.
Tatsächlich fallen bei Taylor Leben und Lehre, Denken und Handeln wie bei kaum einem anderen Denker der Gegenwart zusammen. Er ist ein Meister der Mäeutik, d.h. der Hebammenkunst, durch den Dialog und das Hören auf sein Gegenüber Fragen und Antworten erst auf die Welt zu bringen: „Offenheit für den anderen schließt die Anerkennung ein, dass ich in mir etwas gegen mich gelten lassen muss“, sagt Taylor in einem Aufsatz gleichsam über sich selbst; und so wundert es auch nicht, dass er keinerlei Berührungsängste hat und neben den hochqualifizierten akademischen Podien immer wieder auch den direkten Kontakt mit Studierenden oder auch politisch Interessierten guten Willens sucht. Bis heute.
Den vorerst letzten großen Coup landete Taylor vor inzwischen fast zehn Jahren mit seinem fulminanten Werk „Ein säkulares Zeitalter“, in dem er eine kultur- und philosophiegeschichtliche Abrechnung vornimmt mit der lange Zeit unhinterfragten These, dass zunehmende gesellschaftliche Modernisierung notwendigerweise mit einem Niedergang von Religion einhergehen. Säkularisierung dürfe nicht als Problemanzeige verstanden werden, sondern vielmehr als notwendige Voraussetzung eines neuen – mit Habermas gesprochen „postsäkularen“ – Mit- und Zueinanders von Religion und Gesellschaft.
"So schillernd seine akademische Laufbahn auch war – das Parkett, auf dem er sich wohlfühlt, bleibt doch das Parkett der diskursiven und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit."
Säkularisierung dürfe auch nicht länger als Niedergang kirchlich verfasster Religiosität missverstanden werden, sondern sie stelle vielmehr die „adäquate Antwort des demokratischen Staates auf Andersheit“ dar. Ein Staat sei nämlich nur dann zukunftsfähig, wenn er sich der faktischen Vielfalt der Religionen öffne und diese nicht etwa in Privatheit verbanne, sondern ihr Räume – auch Schutzräume – biete, in denen sie ihr Potenzial für die Gesellschaft entfalten könne. So möchte man den professionellen kirchlichen Religionsapologeten zurufen: Lest Taylor und lernt, die Säkularisierung um der Religion willen zu verteidigen!
Wenig war bis dato die Rede von der Biografie Taylors, von seinem akademischen Leben zwischen den Universitäten von Montreal und Oxford, von seiner Lehr- und Forschungstätigkeit als permanent fellow auch am Wiener „Institut für die Wissenschaft vom Menschen“ (IWM), von seinen zahlreichen Auszeichnungen. Denn so schillernd seine akademische Laufbahn auch war und so hochdotiert seine Preise – zuletzt erhielt Taylor den mit einer Million Dollar dotierten „Berggruen-Preis“ für Philosophie – das Parkett, auf dem er sich wohlfühlt, bleibt doch das Parkett der diskursiven und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit; jenes Parkett, auf dem uneitel um Lösungen für die großen Fragen des menschlichen Zusammenlebens gerungen wird – ohne Berührungsängste mit dem Lokalkolorit und doch mit der Attitüde globaler Zusammenhänge.
Und Taylor wäre nicht Taylor, wenn er mit 85 die Hände in den Schoß legen würde. Er erkenne heute mehr denn je, was es noch zu tun gelte. Und er wäre recht dankbar, wenn er noch einige Jahre Zeit hätte, sich den eigentlichen Fragen zu widmen, verrät er in einem Interview. „Es käme mir insofern durchaus entgegen, wenn ich dazu 150 Jahre alt werden dürfte“. Es sei ihm vergönnt.
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Gottfried Riegler-Cech (Mittwoch, 07 Dezember 2016)
Es wäre eine Untersuchung wert, ob Habermas die Entdeckung seiner religiösen Musikalität (die er sich selbst nicht eingesteht) nicht auch Charles Taylor zu verdanken hat.
Henning Klingen (Mittwoch, 07 Dezember 2016 11:13)
Hallo Herr Riegler-Cech,
danke für Ihren Kommentar - ich habe mich während meiner Dissertationszeit recht intensiv mit Habermas befasst und habe eher den Eindruck, dass das "Bewusstsein von dem, was fehlt" immer schon in der Kritischen Theorie angelegt war, der sich letztlich auch Habermas verpflichtet fühlt. Besonders schimmert diese theologische Sensibilität etwa in der Negativen Dialektik Adornos oder im letzten Text der Minima Moralia "Zum Ende" durch: http://walter-benjamin-bluemchen.tumblr.com/post/4157707920/153-zum-ende-philosophie-wie-sie-im
Ich selbst habe im "Rheinischen Merkur" seinerzeit Habermas zu dessen 80. Geburtstag 2011 einen Text gewidmet, wo es genau um die von Ihnen aufgeworfene Frage geht: http://www.henning-klingen.de/arbeitsproben/rheinischer-merkur/
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