"Nie werde ich das vergessen. Nie"

Der am 2. Juli verstorbene Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat wie kaum ein anderer Autor zur geschichtssensiblen Kehrtwende in der Theologie der 1980er und 90er Jahre beigetragen: Weg von einer geschichtsunsensiblen Theologie, hin zu einer Wiederentdeckung der Geschichtsmächtigkeit des Monotheismus - mit all seinen dunklen Untiefen und Fallstricken. Kurz: Die Theologie schuldet Elie Wiesel Dank.

flickr.com /  Taylor Spaulding / CC BY-ND 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0)
flickr.com / Taylor Spaulding / CC BY-ND 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0)

Im wohlgeölten akademischen theologischen Betrieb sind Irritationen inzwischen - leider - zur Mangelware geworden. Im Ringen um universitäre Bestätigung und Geltung haben es radikale Ansätze schwer. Um so mehr, wenn sie im Geruch stehen, (Glaubens)Zweifel statt Gewissheiten zu nähren. Das war nicht immer so: Als Mitte der 1980er Jahren in Deutschland der vom Historiker Ernst Nolte angestoßene "Historikerstreit" ausbrach, in dem es um den Umgang Deutschlands mit der Erinnerung an die eigene dunkle NS-Vergangenheit und insbesondere den Holocaust ging, wurde dies auch für die katholische Theologie zu einer Initialzündung. Weg von "bürgerlicher Religiosität", hin zu einer geschichtssensiblen Theologie, die von Gott nicht mehr zeitlos reden wollte.

 

Im Fokus dieser neuen Theologie, die sich zugleich bewusst auf biblische und kirchenhistorische Quellen stützte, stand die Vernichtungserfahrung des jüdischen Volkes. Geschichte wurde uminterpretiert und nicht mehr als eine Geschichte im Horizont des unmittelbar bevorstehenden "Reiches Gottes" verstanden, sondern als Leidensgeschichte; als "Landschaft aus Schreien", wie es die Lyrikerin Nelly Sachs auf den Punkt brachte. Eine Leidensgeschichte, an der schließlich nicht zuletzt auch das Christentum und eine christliche Lehrtradition und Theologie ihren Anteil hatte. Es war dies die Geburtsstunde der sogenannten "Theologie nach Auschwitz", d.h. einer Theologie, die mehr Fragen aufwarf als sie Antworten zu geben vermochte; die einer allzu vollmundigen Soteriologie einen Maulkorb verpasste.

 

"Wo ist Gott?"

 

Es war dies eine Theologie, die sich bewusst nicht als Nischen-Disziplin verstand, sondern als Ausdruck eines theologisch tiefgreifenden Wandels im Begreifen und Nachdenken, ja, im Ernstnehmen von Welt und Geschichte. Nach Auschwitz dürfe Theologie nie mehr so von Gott reden, wie vor Auschwitz, lautete das Diktum, das mit so prominenten Namen wie Johann Baptist Metz, Jürgen Moltmann oder Dorothee Sölle verbunden ist. Und mit dem Namen Elie Wiesel. Der jüdische Autor und Publizist, der am 2. Juli verstorben ist, kann ohne Zweifel als Zentralgestalt und Gallionsfigur dieses theologischen Neuansatzes gelten. Seine Schriften - allen voran sein autobiografisches und wohl eindrucksvollstes Werk "Die Nacht" - wurden für eine ganze Generation an Theologen prägend.

 

Bekannt etwa die Schilderung aus "Die Nacht", in der die SS im Lager drei Menschen, darunter ein Kind, vor den Lagerinsassen hängen ließ:

 

Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt. 'Es lebe die Freiheit!' riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. 'Wo ist Gott, wo ist er?' fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. (...) Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch. Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt, seine Zunge war rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: 'Wo ist Gott?' Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: 'Wo ist er? Dort - dort hängt er am Galgen ...' An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam.

 

Wiesel selbst beharrte darauf, kein Theologe zu sein und keinen theologischen Anspruch zu erheben. Er betrachtete sich als Geschichtenerzähler, vergleichbar am ehesten mit Jeremias, wie sein Biograf, Robert McAfee Brown konstatiert - Jeremias, "der niemals Gottes Antworten akzeptierte, sondern ihm neue Fragen entgegenschleuderte und ihn aufs neue herausforderte". Wiesel selbst verglich sich literarisch gelegentlich mit Hiob: "Wie ich Hiob verstand! Ich leugnete zwar nicht Gottes Existenz, zweifelte aber an seiner unbedingten Gerechtigkeit. (...) Heute betete ich nicht mehr. Ich war außerstande, zu seufzen. Ich fühlte mich im Gegenteil stark. Ich war der Ankläger. Und Gott war der Angeklagte."

 

"Wenn ihr nur wüsstet!"

 

Diese Anklage Gottes - bei gleichzeitiger Ehrerbietung dem Höchsten gegenüber - hat Wiesel in seinem wohl beklemmendsten Stück "Der Prozess von Schamgorod" (1979) auf die Spitze getrieben: Hintergrund sind die osteuropäischen Pogrome im 17. Jahrhundert. In einer kleinen Ortschaft wird Gott selbst auf die Anklagebank geführt. "Ich, Berisch, jüdischer Gastwirt aus Schamgorod, klage den Herrn des Universums der Feindseligkeit, der Grausamkeit und der Gleichgültigkeit an (...). Entweder liebt er sein auserwähltes Volk nicht, oder er verspottet es. Soviel scheint sicher: unser Schicksal lässt ihn kalt." Zunächst findet sich kein Verteidiger Gottes. Doch dann tritt ein eloquenter, redegewandter Mann auf, der Gott verteidigt - und der sich letztlich als Teufel entpuppt: "Und ihr habt mich für einen Heiligen gehalten? Einen Gerechten? Ich, ein Weiser, zur Verehrung geschaffen? Ich, ein Herold des Glaubens? Armselige Narren! Wie blind seid ihr doch! Wenn ihr nur wüsstet, wenn ihr nur wüsstet".

 

Wohlgemerkt - weder Wiesel noch die seine Impulse aufgreifende "Theologie als Theodizee" lassen Gott nach Nietzscher Art sterben. Auch liegt ihnen fern, die Relevanz der Gottesrede in Abrede zu stellen. Im Gegenteil: Beiden - sowohl dem Erzähler und Juden Wiesel als auch den Vertretern einer "Theologie nach Auschwitz" geht es darum, die Gottesrede auf neue Beine zu stellen. "Man kann Auschwitz mit Gott nicht nachvollziehen, noch kann man Auschwitz ohne Gott verstehen", so Wiesel. In einem Interviewband hat er dies - erneut unter Rekurs auf das Bild eines Prozesses gegen Gott - mit geschliffener Dialektik und jüdischem Witz zugleich auf den Punkt gebracht:

 

Die Verhandlungen des Tribunals zogen sich lange hin. Und schließlich verkündet der Vorsitzende das Urteil: Schuldig. Und dann herrschte Schweigen, ein Schweigen, das mich an das Schweigen am Sinai erinnerte, ein endloses, ewiges Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, der gerade, wenige Minuten vorher für schuldig erklärt worden war.

 

"Nie werde ich vergessen"

 

Ein zentrales Motiv des Wieselschen Denkens, welches ebenfalls in die "Theologie nach Auschwitz" Eingang fand, war die hohe Bedeutung des Erinnerns. Wenn der Holocaust geleugnet oder vergessen wird, sei die Menschheit dazu verdammt, ihn in Zukunft zu wiederholen, mahnte er immer wieder. Sein Ziel sei daher immer das gleiche: "Um der Zukunft willen an die Vergangenheit zu erinnern", so Wiesel. Dieses Leitmotiv findet sich bereits in seinem großen Erstlingswerk "Die Nacht", in dem er über seine Erfahrungen als Häftling in Auschwitz und Buchenwald spricht - und damit einer ganzen Generation an Überlebenden eine Stimme gab:

 

Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.

 

Wiesel zu erinnern bedeutet, sich dieser großen Irritation auch im theologischen Denken zu erinnern. Und damit bedeutet die Erinnerung an Wiesel auch die schmerzhafte Einsicht, dass eine Theologie, die geschichtssensibel, aber nie "Kind ihrer Zeit" sein wollte, sich heute weitgehend in die Archive der Wissenschaftshistorie verabschiedet hat.


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Kommentare: 1
  • #1

    Stefan (Mittwoch, 13 Juli 2016 00:24)

    Und das hast Du Christ&Welt nicht angeboten?