Religionssoziologen wie Hans Joas werden nach dem Ende der klassischen Säkularisierungstheorie zu gefragten Stichwortgebern für die Zukunft des Christentums in Europa. Sein Plädoyer: Kirchlichen Dünkel ablegen, Glaube als „Option“ begreifen und religiösen Pluralismus akzeptieren...
Außerdem dazu passend: Ein Gespräch mit dem Religionssoziologen Jose Casanova, gesendet am 29. August 2012 im Deutschlandfunk, hier zum Nachhören...
Epochenwenden brauchen ihre Zeit. Auch in der Geistesgeschichte. Elf Jahre ist es her, dass sich Jürgen Habermas in einer vielbeachteten Rede über „Glauben und Wissen“ weit aus dem Fenster nachmetaphysischen Denkens lehnte und mit der Diagnose einer „postsäkularen Gesellschaft“ ein neues Kapitel in der Debatte zwischen einer vorwiegend a-religiöser Kultur und der Religion aufstieß. „Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung“ lautete damals seine elegante These. Eine glatte Selbstkorrektur, denn gerade Habermas galt bis dato als Vertreter einer harten Säkularisierungstheorie, derzufolge Religion durch das Fortschreiten gesellschaftlicher Modernisierung früher oder später schlichtweg verschwinden würde.
Elf Jahre später hat die Diskussion auch Eingang in die Soziologie und Sozialphilosophie gefunden. Religion ist nicht länger eine Leerstelle. Mit ihr muss man wieder rechnen. Die Religionen haben den Tod Gottes überlebt. So bildet sich derzeit eine neue, intellektuell brillante Achse vorwiegend religionssoziologischer Denker heraus, die auf erstaunliche Weise sozialwissenschaftliche Befunde, philosophische Tiefenschärfe und theologische Sattelfestigkeit miteinander verbinden. In Nordamerika sind dies vor allem der jüngst bei den Salzburger Hochschulwochen ausgezeichnete Jose Casanova ("Public Religions in the Modern World") und der kanadische Philosoph Charles Taylor („Ein säkulares Zeitalter“). Im deutschsprachigen Raum ist dies insbesondere der in Freiburg und Chicago forschende Soziologe Hans Joas.
Sie alle verbindet nicht nur eine enge Freundschaft und eine persönliche katholische Prägung, aus der sie auch in wissenschaftlichen Debatten nie einen Hehl gemacht haben. Ihre Thesen weisen noch dazu in eine ähnliche Richtung. So ist ihnen allen eine empirisch fundierte Kritik an der bis dato als unhintergehbar geltenden Säkularisierungsthese gemein, ebenso wie ihr Plädoyer für eine neue Wertschätzung des religiösen Pluralismus nach amerikanischen Vorbild und ein besonderer Sensus für die feinen religioiden Zwischentöne in der gesellschaftlichen Werte- und Normenbildung. Wenn sie schließlich den Glauben als neue „Option“ neben der selbstverständlich gewordenen „säkularen Option“ gleichrangig sehen und der biblischen Religion eine wichtige Rolle bei der Verteidigung einer universalistischen Anthropologie und Moral zuweisen, könnte man glatt geneigt sein, in der Religionssoziologie die Glut der längst erloschen geglaubten Apologetik, der Verteidigung des Glaubens, zu sehen.
Beispielhaft finden sich diese Motive im jüngst erschienenen Buch „Glaube als Option“ von Hans Joas. Darin verabschiedet er die Säkularisierung nicht etwa, er plädiert vielmehr für eine detailliertere Redeweise: gewiss gab und gibt es Säkularisierungsprozesse. Diese liefen laut Joas in „Wellen“ vor allem im Zusammenhang mit der Französischen Revolution, der Industrialisierung und der 68er-Bewegung ab. Dennoch wehrt sich der Soziologe dagegen, unter diesen Wellen gleichsam Religion und Moral untergehen zu sehen. Dies sei empirisch nicht gedeckt.
Ebenso wenig sei es jedoch zulässig, weiterhin von einer prinzipiellen religiösen Ausrichtung „des Menschen“ zu sprechen. Insoweit sei die Säkularisierung tatsächlich unhintergehbar. Joas: „Während Säkularisten nur allzu gern an die Säkularisierungsthese glauben, neigen Gläubige dazu, die Unentbehrlichkeit des Glaubens für seelische Gesundheit, moralische Motivation und/oder gesellschaftlichen Zusammenhalt zu behaupten.“ Sein Sorge ist daher nicht, dass Säkularisierung Moral an sich zerstört, „wohl aber, dass eine Schwächung des Christentums einen der Pfeiler des moralischen und rechtlichen Universalismus schwächt.“
Den Glauben als „Option“ zu betrachten bedeute dagegen, durch die ins schier unermessliche gestiegenen auch religiösen Handlungsoptionen hindurch bewusst und dezidiert „Ja“ zu einer religiösen Lebensform zu sagen – ohne den säkularen gesellschaftlichen Rahmen in Frage zu stellen, der erst die Bedingung der Möglichkeit freier, pluraler Religionsausübung darstellt. „Die Vielfalt wechselseitig anzuerkennen, das scheint mir heute das Gebot intellektueller Redlichkeit in den Debatten über Religion und Säkularisierung.“ Fragmentierung, Pluralität, Kontingenz – dies alles gelte es als Chance zu betrachten und nicht – wie in Kirchenkreisen üblich – als Gefahr des Abbruchs oder gar des Relativismus'.
Ist das Christentum zukunftsfähig? Ja, sagt Joas, wenn es sich vom Hochmut historisch gewachsener ekklesiastischer Institutionalisierung löst, wenn es ohne Scheu neue Koalitionen im Kampf gegen die Bestreitung universalistischer Perspektiven sucht und intern konfessionelle Gräben überwindet. Denn selbst wenn klassische konfessionelle Milieus in Europa weiter abschmelzen mögen – das Christentum wird nicht aus Europa auswandern. Im Gegenteil: Migrationsbewegungen sorgen dafür, dass Europa zusehens „christlicher“ wird, ist Joas überzeugt. Es wäre fatal, diesen Bewegungen daher nicht mit offenen Armen und Herzen entgegenzutreten.
Erschienen in: "Die Furche" am 30. August 2012
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