"Die Idee der Menschenrechte ist die Religion der Moderne"

Was verbindet so unterschiedliche Ereignisse wie den "Arabischen Frühling", den Fall des "Eisernen Vorhangs" 1989 und die Enthüllungen von Guantanamo? Sie alle haben ihren Kulminationspunkt in den Menschenrechten. Die einen pochen darauf und tragen die Menschenrechte als Fackel ihrer Hoffnung auf politische Veränderung vor sich her, die anderen treten sie mit den Füßen, indem sie Gefangene außerhalb ihres eigenen Landes foltern. Dass das Thema Menschenrechte und Menschenwürde nicht nur in der Politik ein "Dauerbrenner" ist, sondern auch in Philosophie, Theologie und Kulturwissenschaften, zeigt bereits ein kurzer Blick auf die Liste der Neuerscheinungen. Darunter fällt eine "Perle" ganz besonders ins Auge: Der Versuch des Soziologen Hans Joas, die Geschichte der Menschenrechte als Geschichte der "Sakralisierung der Person" zu erzählen...

 


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Die "Sakralität der Person": Ein Gespräch mit Hans Joas
Ausführliches Deutschlandfunk-Interview mit dem Soziologen Hans Joas über sein jüngstes Buch. Gesendet am 23. und 24. April 2012
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"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Mit Pathos kommt er daher, der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Die Würde des Menschen wird festgehalten, die Gleichheit und Freiheit der Menschen, der "Geist der Brüderlichkeit" beschworen und in den insgesamt 30 Artikeln der Erklärung entfaltet.

 

Dass diese Rechte und das ihnen innewohnende Ethos nicht vom Himmel gefallen sind, sondern einen konkreten historischen Hintergrund besitzen, hält die Präambel der Erklärung fest, wenn sie auf die katastrophischen Erfahrungen des anheben-den 20. Jahrhunderts mit den Worten verweist, dass "die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen". Menschenwürde und Menschenrechte entstammen also keinem reinen philosophischen oder gar religiösen Argumentationshorizont, sondern gehen in ihrer kodifizierten Form auf konkrete historische Erfahrungen zurück - und doch sind sie in den vergangenen Jahren vermehrt zum Gegenstand von Begründungsdiskursen aber auch von Anfechtungen geworden.

 

In den Reigen der Neuerscheinungen hat sich nun auch der Soziologe Hans Joas mit einem beachtenswerten Buch eingeschaltet, in dem er sich gerade von rein philosophischen Begründungsmustern distanziert und stattdessen eben jene kulturellen Prozesse beleuchtet, die zu einer Kodifizierung der Menschenrechte führen konnten. Prozesse, die er als Formen einer "Sakralisierung der Person" beschreibt.

 

Er fühle sich jedoch grob missverstanden, so Joas im Gespräch mit "Kathpress", wenn man ihm aufgrund dieser, der Religionswissenschaft entliehenen Terminologie eine Nähe zu christlichen Begründungsversuchen der Menschenrechte (Mensch als Ebenbild Gottes etc.) unterstellen würde. Ihm gehe es vielmehr um einen säkulare wie religiöse Traditionen umfassenden kulturellen Prozess, der zu jener hohen Wertschätzung der menschlichen Person geführt habe, die heute aus den Menschenrechtserklärungen und Grundrechtskatalogen spreche. Das gelte im Übrigen auch, wenn er sagt, dass die "Idee der Menschenrechte die Religion der Moderne" sei, so Joas.

 

Der Begriff "Sakralisierung" dürfe nicht so verstanden werden, als habe er "ausschließlich eine religiöse Bedeutung", heißt es dazu auch im Buch selbst. "Auch säkulare Gehalte können die Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität". Joas zusammenfassend: "Schlüsselgedanke dieses Buches ist also, dass die Geschichte der Menschenrechte eine solche Sakralisierungsgeschichte sei, und zwar eine Geschichte der Sakralisierung der Person."

 

Keine "schönfärberische Retrospektive"

 

Gewiss, die Frage des Einflusses des Christentums wird von Joas nicht einfach abserviert. Vielmehr geht es ihm darum, diesen Einfluss nicht in Form einer "schönfärberischen Retrospektive" zu skizzieren, sondern als komplexes Wechselspiel. Menschenrechte und Menschenwürde seien nämlich gerade nicht "in eine bestimmte Tradition 'eingesperrt'", sie seien auch aus anderen kulturellen und religiösen Traditionen heraus zugänglich. Schließlich gebe es in allen großen Religionen und Kulturen emphatische Stellungnahmen zur Würde des Menschen, zur Pflicht, Leidenden zu helfen etc.

 

Die Entstehungsgeschichte der kodifizierten Erklärung der Menschenrechte von 1948 jedoch lässt sich laut Joas konkret im späten 18. Jahrhundert festmachen, wo es bereits zu den ersten feierlichen Erklärungen von Menschenrechten in Frankreich und Nordamerika kam. Das rein religiöse Erklärungsmuster tauge zur Begründung dieser Entstehung der Menschenrechtserklärungen wenig. Die Herkunft der Menschenrechte sieht Joas vielmehr örtlich in Nordamerika. Dort sei zwar "der Geist der Aufklärung" für diese Entstehung wesentlich gewesen, "aber keineswegs notwendig im Sinn einer religionsfeindlichen Aufklärung". Es sei daher an der Zeit, "dass wir uns vom Mythos des antireligiösen Charakters der Französischen Revolution befreien", so Joas.

 

Es gebe zahlreiche Belege, dass die Verquickung von Säkularismus und Aufklärung eine einseitige Lesart sei - vielmehr wurden selbst auf dem Höhepunkt der französischen "Dechristianisierungsbemühungen" weiterhin - im Untergrund - Messen gefeiert, Taufen durchgeführt, religiöse Schriften gelesen und gehandelt. Mehr noch: "Die Verteidigung der Religion gab immer mehr ein einigendes Band ab für alle, die sich von den Exzessen der Revolution bedroht fühlten." So kommt Joas zu der These: "Es zeigte sich, dass in den meisten europäischen Ländern die Aufklärung besser als religiöse Reformbewegung denn als Versuch zur Überwindung oder Beseitigung von Religion aufzufassen ist."

 

"Wechselspiel von Liebesidee und Naturrecht"

 

Dies zeigt sich laut Joas gerade auch in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. "Schon ein oberflächliches Studium des Wortlauts zeigt, dass von einer antireligiösen Stoßrichtung (...) nicht die Rede sein kann" - ist doch etwa in der Präambel zu lesen von der "Gegenwart und unter dem Schutz des Höchsten Wesens". Auch werden die Menschenrechte dort dezidiert als "heilig" bezeichnet. Der Text sei nie als ein "Angriff auf die dynastische Autorität" konzipiert gewesen, sondern stets als Suche nach einem "moderaten Modus vivendi", so Joas.

 

Als Vorbild für die französische Erklärung diente die vorausgegangene Menschenrechtserklärung in Nordamerika, die "Bill of Rights" von 1776. Nachgezeichnet und tiefschürfend ausgeleuchtet findet sich diese Geschichte laut Joas in dem Buch "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte" von Georg Jellinek aus dem Jahr 1895. Die steilste These sei dabei jene von den religiösen Wurzeln dieser amerikanischen Menschenrechtserklärung. So liest man bei Jellinek: "Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs. Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe."

 

Diese These bedürfe heute laut Joas einer deutlichen Korrektur. So lasse sich die bei Jellinek behauptete Frontstellung der Religionsfreiheit als "Keimzelle aller Menschenrechte" nicht halten. Religionsfreiheit habe es nämlich weder in Nordamerika noch im Frankreich der Revolution gegeben. Außerdem stelle die These abermals ein säkulares und ein religiöses Paradigma so stark gegeneinander, dass es keine Verknüpfung geben kann - dies jedoch sei nötig: "Wir müssen uns (...) von der undialektischen Gegenüberstellung der beiden Erklärungshypothesen verabschieden, von denen eine den amerikanischen Protestantismus, die andere die französische Aufklärung für die Entstehung der Menschenrechte verantwortlich macht." Tatsächlich sei die gesamte Geschichte der abendländischen Kultur "immer ein Wechselspiel zwischen der christlichen Liebesidee und Konzeptionen des Naturrechts" gewesen.

 

Einseitige Erklärungsmuster "unhaltbar"

 

Sowohl die religiöse als auch die rein säkulare, antireligiöse Position sei laut Joas also "unhaltbar": "Das konventionelle säkular-humanistische Narrativ ist aus empirischen Gründen unhaltbar", die "alternative Geschichte" einer religiösen Lesart hingegen könne "nicht überzeugend erklären, warum ein bestimmtes Element christlicher Lehre, das sich jahrhundertelang mit verschiedensten politischen Regimes vertrug, die alle nicht auf der Menschenrechtsidee fundiert waren - warum dieses Element plötzlich zur dynamischen Kraft bei der Institutionalisierung der Menschenrechte hätte werden sollen." Daher vermute er bei den Proponenten der religiösen Lesart der Menschenrechte einen "Taschenspielertrick".

 

Die Botschaft seines Buches laute dagegen, "dass es eine fundamentale Alternative zu dieser ganzen Gemengelage von Narrativen gibt" - das Stichwort dazu lautet "Sakralität, Heiligkeit", so Joas: "Ich schlage vor, den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen - eines Prozesses, in dem jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr und in immer stärker motivierender und sensibilisierender Weise als heilig angesehen und dieses Verständnis im Recht institutionalisiert wurde."

 

"Affirmative Genealogie"

 

Um diesen komplexen Prozess zu beschreiben, wählt Joas die Methode einer "affirmativen Genealogie". Spätestens seit Nietzsche und schließlich Foucault habe der Begriff der Genealogie eine Karriere hin zu einem "Modewort" für die Entstehung von kulturellen Phänomenen gemacht. Im Kern gehe es dabei jedoch um die Einsicht in eben diese Kontingenz historisch nicht notwendigerweise ablaufender Prozesse. Bei Nietzsche habe die genealogische Beschreibung jedoch einen "destruktiven" Charakter gehabt, d.h. seine Rekonstruktion war von der Überzeugung geleitet, dass die Aufdeckung historischer Zusammenhänge bei der Bildung von Werten zugleich mit einem "Verlust an normativer Bindung" einhergehe, so Joas. "Aber diesen Zusammenhang bestreite ich: Ich bestreite, dass eine genealogische Untersuchung notwendig destruktive Konsequenzen für Wertbindungen hat."

 

Als Beispiel, das zugleich zentrale Bedeutung für die europäische Bindung an die Menschenrechte hat, verweist Joas etwa auf die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Holocaust: "Wenn ich über mich nachdenke und meine persönliche Bindung an die Menschenrechte, dann komme ich zwingend zu dem Schluss, dass das etwas mit der NS-Geschichte und dem Holocaust zu tun hat und mit den im deutschen Namen begangenen Verbrechen." Aber nicht in dem Sinne, dass ihm die Verpflichtung auf die Menschenrechte durch diese Reflexion geringer würde, sondern im Gegenteil: "Je mehr ich mir bewusst mache, dass das Interesse an den Menschenrechten damit zu tun hat, desto mehr interessieren mich die Zusammenhänge!"

 

Daher habe er die methodologische Differenz zu Nietzsche auch mit dem Begriff einer "affirmativen" anstelle einer destruktiven Genealogie gewählt: "Also die Rekonstruktion der Geschichte eines werthaltigen Phänomens, die dazu führt, dass die Bindung an diesen Wert durch die Rekonstruktion nicht abnimmt, sondern steigt", so Joas.

 

"Sakralität" - säkular gelesen

 

Den Begriff der "Sakralität" löst Joas rasch aus seiner christlichen Konnotation, indem er den damit gemeinten Erfahrungshorizont als "subjektiv evident" und "affektiv intensiv" beschreibt: Subjektiv evident meint laut Joas die Erfahrung tiefster Wertüberzeugung, die für den jeweiligen Menschen - siehe etwa seine eigene Prägung durch die Gräuel des Nationalsozialismus und des Holocaust - "keiner weiteren Rechtfertigung bedarf". Er halte den Holocaust schließlich nicht wegen eines Argumentes für "böse", sondern sei "subjektiv evident" von dieser Überzeugung gleichsam betroffen.

 

"Affektiv intensiv" sei sie zugleich dadurch, dass einen Verstöße gegen solche tiefen Werthaltungen "nicht kalt lassen", sondern man sie verhindern wolle. Verstehe man dies als "Sakralisierung", so könne der Begriff durchaus auch zum "Verständnis zentraler säkularer Wertinhalte herangezogen werden", so Joas.

 

Was bedeutet nun jedoch die betonte Universalität der Menschenrechte, ihre universelle Geltung, vor dem Hintergrund der Betonung ihrer jeweiligen nationalen, gar persönlichen Inkulturation? Anders gefragt: Führt das Beharren auf der persönlichen Aneignung einer "Kultur der Menschenrechte" nicht zugleich zu einer Destruktion ihres universalen Geltungsanspruches?

 

Joas erläutert dazu, dass "universalistisch" ja gerade keine Ablösung von konkreter historischer Erfahrung und also keine schwebende, immergültige Begründungsstrategien bedeute. Vielmehr bedeute universalistisch, dass alle Menschen "auch einen Grund in ihrer eigenen Geschichte finden müssen", warum und wo es Prozesse der Wertbildung gibt, die sich als Prozesse der Sakralisierung der Person lesen lassen. "Es bringt schließlich nichts, einem türkischen Migranten zu erklären, er müsse die Menschenrechte anerkennen, weil es den Holocaust gegeben hat", so Joas. Es müsse eine Vermittlung stets im eigenen kulturellen Horizont stattfinden.

 

Für die christlichen Religionen bedeute all dies eine Verpflichtung zur Bescheidenheit: Ein positiver Beitrag der Religionen zum Menschenrechtsdiskurs kann seines Erachtens gerade nicht im Beharren auf nicht haltbaren naturrechtlichen Begründungszusammenhängen (Gottesebenbildlichkeit) bestehen, sondern vielmehr darin, "für die Wahrnehmung des Leidens in der Welt und seine Unabgegoltenheit zu sensibilisieren". Religionen könnten auch daraus resultierende Gewalt- und Rachegelüste eindämmen und - was eine genuin religiöse Leistung wäre - auf die Solidarität mit dem jeweils Dritten, d.h. mit jenen, die nicht unsere Brüder, die nicht unsere Nächsten oder Nachbarn sind, verweisen.

 

Das Buch "Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte" ist im Suhrkamp-Verlag erschienen und kostet 27,70 Euro.

 

Text erschienen im "Kathpress Info-Dienst" am 8. Juni 2012

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