Im vergangenen Jahr durfte ich aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums meiner Heimat Nettetal einen kleinen Text für die Festschrift der Stadt schreiben. Wenn ich das nebenstehende Foto betrachte, kommt er mir wieder in den Sinn - zugleich ein kleiner Gruß an alle, die entweder lange von zuhause weg sind oder denen manchmal das Herz vor Heimat brennt...
Nächste Station: Heimat
Heimat, so schrieb der Philosoph Ernst Bloch, ist wie ein Licht, das allen in die Kindheit scheint, wo aber noch niemand war. Armer Ernst Bloch, denke ich mir. Ich war nämlich schon da; und ich fahre immer wieder gerne dorthin – so wie jetzt. Mühsam quält sich der alte, rappelige Regionalexpress vom Flughafen-Düsseldorf aus über die Rheinbrücke. Das gleichmäßige monotone Fahrgeräusch lässt Augenlieder und Gedanken schwerfällig werden. Kurzzeitig nicke ich ein, bis endlich jene Ortsnamen vom Zugschaffner angesagt werden, die lebendige Erinnerungen in sich tragen, die nach Jugend schmecken, nach langen Radfahrten zu Scheunenfeten, nach erstem Kuss und erstem Suff, nach Familie.
Hinter Viersen setzt es ein, dieses Gefühl von Heimat, und mit jeder Station wärmt es wohliger, Dülken, Boisheim, Breyell. Bis Kaldenkirchen rolle ich selten, meist winke ich schon von weitem meinen Eltern zu, wenn sie mich in Boisheim abholen.
Gewiss, man kann sich auch anderswo eine Heimat errichten, man kann Heimaten neu erfinden, dort, wo man sich bettet. Manchen genügt zur Heimat die Tatsache, in der eigenen Wohnung mehr als einmal renoviert zu haben. Mir ist seit nunmehr sechs Jahren Wien zu einem neuen zuhause geworden, Heimat jedoch bleibt mir Nettetal.
Das mag allzu emotional aufgeladen klingen, vielleicht überzogen, zweifellos erinnerungsschwer und ein bisschen metaphysisch. Aber aus der Distanz von fast 1.000 Kilometern verwächst sich dieser kleine Flecken am linken Niederrhein zu einem undurchdringlichen Dschungel von Liebenswürdigkeiten. Altbekannte Kneipen von Lobberich bis Kaldenkirchen, Sporthallen meiner Jugend, Schulgebäude – weniger geschätzt – und Radwege, die dieses feine Netz von Erinnerungen verbinden und verweben. Ein Sehnsuchtswert, gewiss, dem die Realität nur mühsam stand zu halten vermag.
Auch um Wien herum ist die Landschaft mitunter flach und weit, aber die Weite um Nettetal ist anders, sie trägt – wie am gesamten Niederrhein – eine melancholische Note, wie sie etwa bei Herbstspaziergängen durch die Weiden- und Moorlandschaft der Secretis sichtbar wird, wenn sich der Sommer aus den Wiesen schleicht und dem kühlen Herbstnebel Platz macht. Abschiedlichkeit und Heimat, auch das gehört wohl zusammen – eine Abschiedlichkeit allerdings, die immer schon die Ahnung der Wiederkehr in sich trägt. Wie schon Hanns Dieter Hüsch einst sagte: Jeder Niederrheiner kommt irgendwann einmal zurück.
Ein harter Gleiswechsel hinter Dülken reißt mich aus meinen Gedanken. Ich greife nach meiner Reisetasche, blicke aus dem Fenster auf abgeerntete Maisfelder, Windräder lassen an der Bruchkante in die weite Senke der Nette die Flügel sausen und am Horizont drängt sich zwischen Windrädern der Lobbericher Wasserturm hindurch. Nächste Station: Heimat.
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