Wie ist es um die katholische Kirche in Europa bestellt? Auf diese nicht ganz einfache und seriös kaum zu beantwortende Frage sollte ich für die Januar-Ausgabe des "Liborius-Magazins" (www.liborius.de) dennoch genau das finden: eine Antwort - und das ganze am besten auch noch eingewoben in eine lockere Reportage, ausgehend von Wien. Das Ergebnis dieser "journalistischen Überforderung" ist letzte Woche erschienen - und hier nun zu finden...
Einheit in Vielfalt
Für die einen ist sie Hoffnungsträger in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, für die anderen ein Auslaufmodell: die Katholische Kirche in Europa. Eine kursorische Reise vom Wiener Stephansdom nach Polen, Irland, Frankreich und Großbritannien
Kirche ist immer und überall Weltkirche. Ob man in einer prall gefüllten polnischen Dorfkirche emphatisch Gottesdienst feiert oder in der britischen Diaspora als katholischer Streetworker seinen nüchternen Dienst verrichtet: stets kann man sich der Solidarität der christlichen Weltgemeinschaft – immerhin fast 1,2 Mrd. Menschen – sicher sein. Und auch in Europa ist man – entgegen den von vielen wahrgenommenen Trend der Marginalisierung der Kirche – als Katholik nicht allein: immerhin beläuft sich die Zahl der katholischen Christen trotz leicht rückläufiger Tendenz auf weiterhin fast 40 Prozent an der Gesamtbevölkerung.
Stets bedeutet dieses Eingebunden-Sein aber auch eine Bürde – die Verpflichtung nämlich, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und diese große Gemeinschaft mit all ihren Ecken, Kanten, aber auch mit ihrem Reichtum und Potenzial in den Blick zu nehmen. Dann wird spätestens klar: die Probleme der anderen – heißen sie Missbrauchsskandal, Austrittswelle oder Reformstau – sind immer auch ein stückweit die eigenen Probleme; und die Freuden der anderen – heißen sie Respiritualisierung, Reform-Aufbruch oder Laien-Engagement – sind auch die eigenen Freuden. Denn Kirche ist „Einheit in Vielfalt“, wie es eine häufig zitierte ökumenische Formel auf den Punkt bringt.
In besonderer Form greifbar wird diese Einheit in Österreich, genauer gesagt: in Wien. Die österreichische Hauptstadt wird gerne als „Sprungbrett in den Osten“ bezeichnet – und dies nicht nur für die Wirtschaft, die im nachkommunistischen Osteuropa Geschäfte wittert. Auch die Kirche hat hier eine besondere Weite und Brückenfunktion – sei es zur Orthodoxie oder auch zu den zahlreichen anderssprachigen Christen, die in Wien ansässig geworden sind.
Auf ihnen ruhen zugleich besondere Hoffnungen, wird doch auch die österreichische Kirche nicht von den Unruhen einer um sich greifenden Säkularisierung verschont. Durchschnittlich 40.000 Austritte pro Jahr, ein deutlich greifbarer kirchlicher Abbruch gerade bei der Jugend und eine sich in zermürbenden Reformdebatten aufreibende Kirche sorgen für eine latente Krisenstimmung. Das Bekanntwerden von rund 1.000 Missbrauchsfällen im kirchlichen Raum hat – trotz eines weitgehend gelungenen Krisenmanagements – die Lage weiter verschärft. Das „katholische Österreich“ droht zum Mythos zu werden.
Dabei bemüht sich die Kirche – allen voran der Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn – offensiv um Reformen. Strukturreformen allein sind ihm dabei jedoch zu wenig; es brauche einen missionarischen Aufbruch, ist Schönborn überzeugt. Entsprechend lud er im Laufe der vergangenen zwei Jahre bereits tausende Pfarrvertreter zu großen Versammlungen und Reformgesprächen in den Stephansdom. Durchkreuzt wurden diese Pläne unlängst von einem „Aufruf zum Ungehorsam“ einer Initiativgruppe von rund 300 Priestern, die – zumeist gestandene Geistliche – durch drastische Wortwahl und Forderungen auf Reformen in den Gemeinden und in der pastoralen Arbeit drängten.
Noch ist der Streit nicht geschlichtet, viele befürchten schon die nächste große Austrittswelle, dennoch hält Schönborn unbeirrt an seinem „Masterplan“ fest – dem Plan nämlich, Reformen sanft eingebettet in missionarische Initiativen durchzuführen. Und dabei gilt es für den Wiener Erzbischof auch von den Erfahrungen der Weltkirche bzw. der zahlreichen Christen aus anderen europäischen Ländern zu lernen. Jeder fünfte Wiener Katholik gehört einer solchen Gemeinde an – und sie alle leben und glauben in dieser Stadt.
Einen Eindruck von dieser bunten Lebendigkeit des europäischen Christentums kann man sich bei einem Bummel durch die alljährlich im Frühsommer stattfindende „Lange Nacht der Kirchen“ verschaffen. Die Idee einer ökumenischen Nacht der offenen Tür in allen christlichen Kirchen ist mittlerweile zu einem Exportschlager geworden. Der Heimathafen jedoch ist hier, in Wien – genauer gesagt: im Stephansdom. Zigtausende Menschen drängen sich in der „Langen Nacht“ in dieses größte Gotteshaus des Landes. Angelockt vor allem durch die eindrucksvolle künstlerische Lichtinstallation, die den Dom in dunkle und warme Farben taucht, unterbrochen einzig von Kunstnebel und einem zuckenden Laser, der vom Altar aus die Wände und Säulen umtanzt.
Von einer wohligen Welle an warmer spiritueller Einstimmung auf den Stephansplatz hinausgespült, beginnen wir unsere kleine Reise durch den europäischen Katholizismus zunächst in einem weiteren, vermeintlich unumstößlich katholischen Land: Polen. Rund 30.000 Polen leben heute in Wien, die Gottesdienstquote in der Kirche Zum Heiligen Kreuz nahe der Innenstadt ist hoch. Dennoch – auch in Polen ist der Katholizismus unter Zugzwang geraten.
Das weiß die polnische Journalistin Teresa Sotowska zu berichten. In einem Innenstadtcafe rührt sie lange in ihrer Melange. Die katholische Kirche – immerhin noch eine überwältigende Mehrheit von 95 Prozent der Bevölkerung – stehe in der Gefahr, „sich von der Gesellschaft abzukapseln“. Zwar seien die Gottesdienste in Polen nach wie vor voller als anderswo, aber die Bindungskraft des Glaubens schwinde gerade in moralischen Fragen zusehens. Katholische Riten begleiten, meist folkloristisch überhöht, durch die Lebenswenden, doch das Familienbild verändert sich, das Engagement in den Pfarren liegt am Boden – und Meinungsführerschaft bei gesellschaftlichen Themen hat die Kirche schon lange nicht mehr, so Sotowska.
Vor zwanzig Jahren war das freilich noch anders. Johannes Paul II. – auch heute noch dauerpräsent in Predigten und Gebeten – wurde zum Katalysator des Umsturzes. In der „Solidarnosc“ – der gewerkschaftlichen Keimzelle des friedlichen Umbruchs – wurden Katholiken zu führenden Querdenkern und Trägern des Protests. „Alles längst aus und vorbei“, winkt die Journalistin ab. Das politische Christentum ist in sich zusammengebrochen, Bischöfe und Klerus üben sich in spiritueller Selbstgettoisierung. „Dabei ist die Sehnsucht nach Halt und Orientierung in einem neuen Europa größer denn je“, sieht Sotowska ihre Kirche den Kredit weiter verspielen. „Ein Generationswechel muss her, und zwar schnell“.
Am anderen Ende Europas, in Großbritannien, kann man sich über mangelndes Engagement der katholischen Laien nicht beklagen. Angesichts eines verschwindenden Anteils von höchstens zehn Prozent an der anglikanisch dominierten Gesamtbevölkerung mag das überraschen. Für Michael Hölzl, katholischer Religionsphilosoph an der Uni Manchester, bedingen sich jedoch Diaspora-Mentalität und politisch gelebtes Christentum geradezu. Vor den Toren der mächtigen, neugotischen Mexikokirche gleich neben der Donau wartet er geduldig, bis das Glockengeläut endet, das in der „Langen Nacht“ die Mitglieder der „Vienna English Speaking Catholic Community“ zum Gebet ruft.
Wer in Großbritannien nach der katholischen Kirche sucht, den führt der Weg in die Extreme. „Entweder man findet sie in der pastoralen Basisarbeit in den Arbeiter- und Industrieregionen, dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Hoffnung gering ist – oder aber man findet sie in den katholischen Eliteschulen des Südens, wo eine verschwiegener katholischer Geldadel sich in geschlossenen Clubs trifft“, weiß Hölzl zu berichten. Dazwischen gibt es nicht viel. Auch wenn mittlerweile – nicht zuletzt dank des von englischen Medien als Erfolg gewerteten Papstbesuchs 2010 – die alten, historisch bedingten Vorbehalte gegenüber den Katholiken langsam abschmelzen. Dabei bringt die angespannte Diaspora-Situation weitere Vorteile mit sich: enorme Gestaltungsfreiheiten im pastoralen Bereich dank großzügiger privater Spenden, aber auch das Fehlen zermürbender Strukturreformdebatten wie etwa in Deutschland oder Österreich, so Hölzl, der selbst aus Wien stammt.
Die Situation sei heute komplexer als in anderen europäischen Ländern. Eine nie ganz zu Ende geführte Reformation, verbunden mit gegenreformatorischen Initiativen, hat eine heute in sich zutiefst gespaltene anglikanische „Church of England“ hervorgebracht. Unlängst schlüpfte ein konservativer Flügel der Anglikaner in Form der neu geschaffenen Rechtsform eines „Ordinariats“ wieder unter den Schutzmantel Roms. „Das anglikanische Experiment ist gescheitert“, brachte das der vor einem Jahr zum Katholizismus konvertierte anglikanische Bischof John Broadhurst gegenüber dem „Liborius-Magazin“ auf den Punkt.
Mit dem irischen Nachbarn verbindet Großbritannien im Übrigen religiös weniger als man ob der geografischen Nähe glaubt. Immerhin rund 90 Prozent bekennen sich hier zum Katholizismus, wenn auch hier Einschränkungen gemacht werden müssen wie in Polen. Denn längst ist auch Irland kein katholischer Musterschüler mehr. Der Missbrauchsskandal überrollte vor zwei Jahren das Land wie eine mächtige Flutwelle – und noch immer schlagen die verschiedenen Untersuchungsberichte Wellen, die Bischöfe zum Rücktritt zwingen und schließlich im März 2010 gar Papst Benedikt XVI. dazu veranlassten, sich in einem Brief persönlich an die irische Kirche zu wenden und auf Aufklärung zu drängen.
Doch nicht nur der Missbrauchsskandal sorgte dafür, dass die katholische Kirche in Irland heute unter Druck geraten ist. Historisch wurde sie – im Fahrwasser der Auseinandersetzungen mit England im 19. Jahrhundert – zum Hort des irischen Nationalismus, schrieb unlängst der Jesuit und Theologe Fergus O’Donoghue in den „Stimmen der Zeit“. Damit wurde sie zugleich zur Triebfeder eines politischen Konservativismus, der in einem modernen, offenen Europa heute nicht mehr zeitgemäß scheint.
Mit der anfänglichen irischen Erfolgsgeschichte in der Europäischen Union und einem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung sollte sich die Kluft zu einer bewahrenden und sich zunehmend schließenden Religiosität immer größer werden. So kann O’Donoghue auch für Irland feststellen: „Die Kirche als Institution ist nach wie vor ein geschätzter Serviceanbieter, aber sie wird eher für Übergangsriten in Anspruch genommen, als dass sie ein Schwerpunkt des öffentlichen Lebens oder eine ‚Wächterin der Seele’ eines Landes wäre, das über seine eigene Identität unsicher geworden ist.“ Schonungslos schreibt der Jesuit, Irland habe zurzeit „eine zerrüttete Kirche in einer depressiven Gesellschaft“. Hoffnungsvoll blickt er da auf den Eucharistischen Weltkongress, der in diesem Jahr in Dublin stattfinden wird und zu dem – so munkelt man – auch der Papst kommen könnte.
Zurück in die „Lange Nacht“. Von der englischsprachigen Gemeinde am Ufer der Donau führt der Weg zurück in die Innenstadt und in eine der schönsten Kirchen Wiens: die zwischen engen Gassen elegant eingefügte, hoch aufstrebende gotische Kirche Maria am Gestade. Hier hat die französischsprachige Gemeinde ihre Heimat gefunden. Kardinal Schönborn ist ein gern gesehener Gast in der Gemeinde, hat er doch lange in Frankreich gelebt, studiert und schließlich an der Katholischen Universität Fribourg unterrichtet.
Auf einer der hinteren Bänke wartet in dieser „Langen Nacht“ Franz Morawitz, Journalist und als solcher Experte für den gesamten französisch- und spanischsprachigen Teil der Weltkirche. Frankreich gilt gemeinhin als Hort der „laicité“, der völligen Trennung von Staat und Religion. Offizielle statistische Angaben zur religiösen Ausrichtung der Bewohner sind daher rar – jüngeren Angaben der Religionsgemeinschaften zufolge sind etwa drei Viertel der rund 60 Millionen Franzosen katholisch. Seit dem Jahr 1905 schreibt das sogenannte „Loi Combes“-Gesetz die Trennung von Staat und Religion fest – mit dem folgenreichen staatlichen Rückzug aus allen kirchlichen Finanzierungsfragen.
„Auch wenn die regelmäßige religiöse Praxis zurückgegangen ist, verfügt die katholische Kirche in Frankreich nach wie vor über starke Strukturen“, weiß Morawitz zu berichten. Geht man nach den nackten Fakten, so gibt es 98 Diözesen mit insgesamt 186 Bischöfen und über 16.000 Pfarren. Auch im Bildungsbereich ist die katholische Kirche – trotz fehlender staatlicher finanzieller Förderung – stark präsent. Die verordnete „laicite“ habe aber auch noch eine weitere „positive Seite“, so Morawitz: Von Missbrauchsfällen war in Frankreich erstaunlich wenig zu hören; auf der anderen Seite sorgt die „laicite“ dafür, den Klerikalismus gering zu halten und die soziale politische Flanke der Kirche und ihrer Vertreter zu stärken. Wortmeldungen von Seiten der katholischen Bischöfe zu sozialpolitischen Fragestellungen sind an der Tagesordnung – und sie werden weithin beachtet.
Sucht man nach dem Verbindenden zwischen all diesen Puzzleteilen, nach einem gemeinsamen Horizont, so ist dies wohl der – zweifellos in unterschiedlichen Geschwindigkeiten – fortschreitende und vieldeutige Prozess einer Säkularisierung, die mit dem Auf- und Abbrechen altgewohnter Lebens- und Glaubensmuster einhergeht. Alles steht zur Disposition, das gilt für das vermeintlich katholische Polen ebenso wie für die Diaspora-gewöhnten englischen Katholiken. Dabei ist es gerade Europa, dieses Gebilde aus übersteigerter Bürokratie und hochspekulativer Hoffnungen auf sozialen Ausgleich, Frieden, Gemeinschaft und Zusammenhalt, das den Christen nicht nur freie Religionsausübung garantiert, sondern den Austausch mit den Religionen sucht.
Denn auch das war eine Frucht des lange umstrittenen Lissabon-Vertrags: die Ausformulierung einer so genannten „Dialogklausel“ (Artikel 17), die die Verpflichtung der Europäischen Union zu einem wertschätzenden Dialog mit den anerkannten Religionen enthält. Auf europäischer Ebene sind die Kirchen so in den letzten Jahren zu Dialogpartnern auf Augenhöhe geworden. Sie werden im Parlament und in Ausschüssen angehört und informiert. Gegenüber diesen großen Aufgaben blieben die aktuellen innerkirchlichen Debatten über Struktur- und Reformfragen fast zweitrangig – so formuliert es etwa der für die Ausarbeitung der Dialogformel federführend zuständige österreichische Jurist und Vertreter der österreichischen Bischöfe in Brüssel, Franz Eckert. „Ich habe den Eindruck, es fehlt noch an der Verantwortung der Christen für die Europäische Union in dieser schwierigen Zeit.“
Die letzte Station in dieser „Langen Nacht“ ist eine Fahrt auf den Nordturm des Stephansdoms. Der Blick gleitet über die hell erleuchtete, glitzernde Stadt. Kirchen prägen die Silhouette. Dazwischen lassen sich Menschenmengen durch die Straßen treiben. Die vermeintlich unüberwindbaren innerkirchlichen Probleme und Streitigkeiten – sie verschwinden freilich nicht bei einer geweiteten Perspektive. Aber sie werden doch kleiner. Und vielleicht geben sie dann irgendwann gar den Blick auf das Wesentliche frei.
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